Ich stieß auf Galina Pawlowna
Eine Hymne auf die Füße von einst, bevor sie müd waren!
Nachdem sie hier angekommen war (in einem der Winter nach dem Krieg, Fritz wusste nicht mehr genau, in welchem), blieb sie auch gleich hängen, bis zum heutigen Tag, mehr als vierzig Jahre. Eine Russin, sagten sie in Pico Grande vereinfachend. Sie kam aus der Ukraine, von den Deutschen nach Deutschland geraubt, danach von den Engländern beschlagnahmt und ums Haar an Stalin abgeschoben, sagte mir Fritz. Vorher noch von den Engländern bombardiert. In Amerika unerwünscht, nach Argentinien abgeschoben, von Buenos Aires in den Süden abgeschoben, in die Südspitze Patagoniens.
Verstehen Sie etwas von der Welt?
Ich wusste nun schon fast alles, aber alles, was ich sah, war eine Frau, die ihre Haare hängen ließ, ihren Kopf, ihr Leben.
Sie leitete das kleine Hospital von Pico Grande, eine der Krankenstationen, die über Patagonien verteilt waren. Sie wurde in Pico Grande gebraucht. Nach ihr würde das Hospital Rural geschlossen werden. Mit ihrem Mario, dem Indianer, den sie bei sich aufgenommen hatte, als er ein Jahr alt war, sprach sie Russisch. Mit den Leuten Spanisch. Mit mir sprach sie Deutsch. Es war ein unendlicher Weg bis hierher, aber selbst in Pico Grande hatte sie noch Angst, entführt zu werden. Ihre Angst war konkret.
Umso zwingender war ihr Glaube, da sie sich aufzählen konnte, wie oft sie schon der Verfolgung entkommen war. Auf jedem ihrer Kontinente war ihr mindestens einmal nach dem Leben getrachtet worden.
Die Angst versandete, das Gespräch. Wir schwiegen. Die Welt holte sie an ihrem Ende ein und brachte einmal Kopfweh und einmal den Tod.
Sie lebte ja nur, weil sie verfolgt wurde, weil sie von den Deutschen nach Deutschland geraubt, von den Engländern ums Haar ans Messer geliefert und von den Amis im Schatten der Freiheitsstatue aufs offene Meer hinausgetrieben, weil -
auch war sie nie ganz gesund -
und Heimweh -
Amerika kam für sie nicht in Frage.
»Kommen Sie wieder!«, sagte sie. Ich ging.
Jede Personenbeschreibung wäre ein Reisebericht.
Du bist aufs offene Meer hinausgetrieben worden. Die Freiheitsstatue wurde immer kleiner.
Auf dem Schiff konntest du ausruhen und atmen.
Das Geld für die Passage, auch das Kopfgeld, das bei der Einreise vorzuweisen war, hattest du in deinem geretteten Pelzmantel. Der erste Nachkriegswinter. Das alte Leben landunter und dein Glaube an Bord, dass ein Tag wie der andere sei, verflüchtigte sich bald wieder an Land.
Warum zitterst du?
»Ein gutes Schiff!«, sagte einer deiner Matrosen, die dich hinübergeleiteten. Aber dann kam ein Sturm. Da sagte dein kaum verständlicher Matrose, um dich zu beruhigen (das Schiff arbeitete schwer im Wasser, es schaukelte auf den Wellen, du zittertest), sagte der Matrose mit der Angst im Gesicht: »Ein gutes Schiff. The sea is closed by police, but this good ship!«, und er zeigte auf deine Füße, Galina, und auf den Boden, auf dem sie standen.
Du warst nicht die Einzige, die ein Leben wie deines führen musste. Es war so gut wie nichts, was du bei dir hattest, als du Ellis Island, die Einwandererinsel, betratest. Deine Sprache (Russisch), deine Sprachen spielten keine Rolle. Es war nicht die richtige darunter, du konntest kaum ein Wort Amerikanisch.
Für die Nacht wurde dir eine Pritsche zugewiesen. Vorher musstest du dich unter der Aufsicht von zwei Braunbehosten duschen, zusammen mit allen Frauen, die nach Amerika wollten. Deine Habseligkeiten wurden dir abgenommen. Du solltest dir deine Nummer um den Hals hängen. Über Lautsprecher wurde dein Name aufgerufen. Du solltest dich zur Abholung in den Schlafsaal bereitstellen. Da waren etwa zweihundert Betten in dem Raum. Nachts blieb das Licht an. Aber alles andere kam dir doch bekannt vor. Hast du nicht die schönsten Jahre in einem Lager verbracht?
Am nächsten Tag begannen die Prüfungen. Der erste Versager wurde schon auf das Beiboot getrieben, das alle, die nicht nach Amerika passten, auf das vor Anker liegende Schiff zurückbrachte.
Da hatte sich doch ein Aussätziger unter euch Einwanderer geschmuggelt. Er konnte die eine, die angefressene Hand notdürftig in einem langen Ärmel verschwinden lassen, aber auch die Nase war schon angefressen. Wie ein Clown war er zurechtgemacht, so wollte er angesehen sein. Eine weiße Salbe, die den Schmerz verdeckte, sollte Schminke vortäuschen. Keiner nahm ihm den Clown ab: ein Clown in Amerika? Woher der stammte? Pfui! hörtest du auf Deutsch im Vorbeigehn. Mit was für einem Schiff war der gekommen? Selbst in der Masse der Männer (er stand auf der Männerseite) fiel diese Nase auf. Ekelerregende Krankheiten hatten keine Chance, an Land zu kommen. Jeder, der ihn sah, wusste, dass für seine ekelerregende Krankheit kein Platz wäre in Amerika. Er kam aus Portugal. Die Nase hatte er sich in Afrika geholt. Seitdem blieb ihm ein Leben im Hinterzimmer. Man ließ ihn nur noch nachts ans Meer. Das war augenblicklich klar, jedem, der ihn sah. Seine Geschichte war in wenigen Sätzen erzählt.
Doch dich, Galina, erwarteten große Tafeln aus Blech: Willkommen in den Vereinigten Staaten von Amerika (so lautete der vollständige Name des Landes über dem Meer). Trotz der Kriegsjahre warst du schön und etwas mollig geblieben, aber nicht schwindelfrei. Auch deine Geschichte in Amerika war vergleichsweise kurz. Du bekamst einen Besen in die Hand, Tee aus Plastikbechern (die ersten Plastikbecher deines Lebens). Nach einer schrecklichen ersten Nacht zwischen diesen Einwanderern in Anstaltskleidung, die schon eine Runde weiter waren, die alles abgelegt hatten außer ihrem Körpergeruch, wurde dein Name erneut aufgerufen. Du hast dich nur an der Nummer erkannt, die aufleuchtete. Deinen Namen hast du nicht verstanden. Ein Komitee lächelnder Amerikaner solltest du überzeugen, dass die Staaten das Richtige für dich wären. Jetzt waren sportliche Fähigkeiten angesagt, nach dem Glauben an Gott und Amerika die wichtigste Eigenschaft eines Menschen. Zuerst solltest du eine Reihe von Purzelbäumen, vorwärts und rückwärts, nach deiner Wahl, vorführen. Du glaubtest an einen Scherz, schicktest dich dann aber doch an. Hinter dir standen schon mehrere Frauen im Trainingsanzug, die dicker waren als du und älter, alte Frauen, die den Krieg überlebt hatten und diese Sache nicht besser machen würden als du. Dann standest du vor den Hürden. Da war eine glatte Wand aus Plastik, die einen Meter hoch war und umfiel. Dein Sprung misslang. Die Mauer fiel einfach um und begrub dich. Doch deinen Plan hattest du zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht aufgegeben.
Nach einer kleinen Pause wurden die Pioniertugenden getestet. Da kam eine Braunbehoste mit einem Huhn herein, übergab es dir zusammen mit einem Messer und deutete durch Zeichen und Laute an, in einer Stunde wolle sie ein kochfertiges Suppenhuhn mitnehmen. Nach dieser Stunde konnte das Huhn an die nächste Kandidatin weitergereicht werden. Am meisten versagtest du auf der Leiter. Warum warst du nicht schwindelfrei? Ein dreißig Meter hohes Gerüst aus Eisen, das wie ein Galgen im Hof stand. Da hinauf mit dir, bis zur zweitobersten Sprosse!
Schon auf der zehnten Stufe bliebst du hängen, kralltest dich fest und musstest mit Gewalt heruntergeschafft werden wie eine Selbstmörderin, die auch noch den Verstand verloren hat. Das war das Ende.
Mit dem nächstmöglichen Schiff wurdest du aufs Meer hinausgeschafft. Eines Morgens (ich übergehe, dass du unterwegs in Seenot warst) erwachtest du im Hafen von Buenos Aires.
Du lerntest Spanisch. Die ersten Worte konntest du schon in Russland. Nach drei Wochen hat man dir eine Gegend auf der Karte gezeigt, die du bis dahin nicht einmal dem Namen nach gekannt hattest. Dahin bist du gefahren, um dort den Rest deines Lebens zu verbringen. Einverstanden?
Die Schafe bissen nicht, die Gauchos sprachen nicht; und es war heiß und kalt, alles fast ganz wie zu Hause.
Jede Personenbeschreibung wäre ein Reisebericht
Ich schweifte ihre Wände entlang, sah schließlich weiße Mäuse und Ameisen, fleißig wie die Bienen. Einige besonders schöne Ameisen, aber Ameisen.
Eine Müdigkeit hatte mich nun wieder erfasst, vergleichbar meiner kindlichen Müdigkeit, jener Müdigkeit vom Anfang mit ihrem Unwillen gegen Tag und Licht und Menschen. Den Leuten zusehen, wie sie ihr Käsebrot verschlingen, schmusen, Arm in Arm in der Nacht entschwinden?
Erinnerungen an Strände, an denen ich saß und gesessen hatte, gerade jetzt, vorbei, kein dummes Wort, und die von Homer erwähnt wurden. Miserere-Syndrom: Scheiße kotzen, aber kein Fieber, die Reise konnte weitergehn. Hagios Nikolaos, Seefahrerpatron, »der Ort ist sehr einsam«, las ich mir vor.
Das Abendlicht wird dir auch noch geschenkt, dachte ich, zum Fenster hinausschauend, als wäre es die Taiga, auf dem Samowar der Tee.
Aber die Kordilleren sind dir nichts als ein blaues Band. Du bist mit dem Flugzeug angereist, bist angeflogen und hast dich ebenso schnell abgefunden mit allem, was du zu sehen bekamst, dachte ich mir dazu.
Dir, mir genügte damals schon der Biermann, der in der Welt herumgekommen war, unser Biermann, ein Biermann, der Wien gesehen hatte, die Wolga, den Kaukasus, den Balkan, alles im Krieg. Jetzt hatte er eine Frau, die ihm Kinder geschenkt hatte, Wunschkinder, ein Haus, Summe eines verpfuschten Lebens, und war bald tot.
Bald war die Gegenwart in meinem Kopf wiederhergestellt, von Lord Byron und all seinen Gedenktafeln um das Mare Nostrum befreit und erlöst. Wer war dieser verdammte Kerl?
Ich kannte keine Zeile von ihm und wusste, an welcher Stelle er das Meer durchschwommen, an welcher Stelle des Wassers er den Tod gefunden und wo er in Rom seine Sandwiches verspeist hat. Erinnerungen, Ballaststoffe: Goethe trank schon zum Frühstück, seine Frau und sein Sohn gingen am Suff zugrunde. Währenddessen schritten unten, auf der einzigen Straße von Pico Grande, Liebespärchen an mir vorbei, als ob sie auf dem Weg ins Theater wären.
Früher (durfte so der Satz eines Menschen beginnen, der lebte?) stand ich an Allerseelen auf dem Heimatfriedhof herum. Jetzt bist du hier, sagte ich mir, am Fuß der Anden und trinkst Tee aus dem Samowar. Die anderen versuchen, eine Verbindung zu deinem Leben herzustellen, sie ziehen dazu ein Foto aus der Tasche und behaupten, du habest eine gewisse Ähnlichkeit mit deinem Urgroßvater. Und auch sie habe von dieser Ähnlichkeit, sagt Rosa. Es sei mir und ihr ins Gesicht geschrieben, woher ich sei und was. Ganz zu Beginn sagte ich mir: Stell dich auf ihre Fragen ein, sie wollen nur von dir wissen, wie es zu Hause ist. Sag ihnen: Es ist ganz wie zu Hause. Versuch, ihnen von der Heimat zu erzählen, unserem Friedhof mit der schönen Aussicht, dem Leben, das ihres sein könnte. Ich spannte also meine Flügel aus.
Sie wollen Fotos sehen, die ihnen mehr sagen, als ich sagen kann.
Sie wollen wissen, was es zu essen gibt, alles der Reihe nach. Unsere Höhlen?
Sollte ich von der Bärenhöhle, den Tropfsteinhöhlen und allen Höhlen meiner Kindheit berichten oder einfach von meinen Höhlen, zu denen ich wenig später auch noch die Diktehöhle rechnen musste, wo Zeus geboren war, die Idahöhle, wo er vor seinem Vater versteckt wurde, damit der ihn nicht gleich zu Beginn der Geschichte auffraß? Oder von der Stelle, wo Europa an Land getragen wurde? Nicht weit davon, nur noch etwas südlicher, soll Kalypso beheimatet gewesen und Paulus an Land gespült worden sein.
Sollte ich Rosa von den Strandungsorten berichten, die auch noch ihr Leben erreichten? -
Früher (darf ich das sagen?) stand ich an einem solchen Tag auf dem Friedhof, ein Gemisch aus Chrysanthemen und Wintermänteln. Verstanden sie mich, eine Erinnerung aus Höhlen, Chrysanthemen und Wintermänteln? Die Bärenhöhle mit dem Bären, der seine Tatzen um mich geschlungen hat und sich mit mir im Arm, auf dem Arm fotografieren ließ, das war ein handfestes Bild, das ich aus der Tasche ziehen konnte.
Oder jenes Bild in meinem Kopf, das Röntgenbild vom Tag der Reihenuntersuchung?
Konnte ich mir an diesem Tag schon vorstellen, dass in Pico Grande alles ganz wie zu Hause war und sein würde? War ich als Tourist gekommen, mit seinen Lügen, und als Kundschafter mit seinem Bericht von den Menschenfressern, den Ruinen am Meer, am Meer der Erinnerungen und Armen Seelen?
Die Erzählung stockte, ich flüchtete mich zur Röntgenreihenuntersuchung und meiner Angst und Scham, die sich jetzt, inmitten meiner fernen Verwandten, in Gelächter auflöste. Alle lachten, mussten lachen.
Ich, der ich nun für eine gewisse Zeit meiner katholischen Herkunft hinter dem Berg und meiner Zeit hinter dem Berg selbst entflohen war und jene wie die Kleider am Tag der Röntgenreihenuntersuchung abgelegt hatte, konnte nun auch über die zu dicken und zu dünnen, die richtigen und die falschen Oberweiten auf der Frauenseite und mein wiederholtes Erröten mitlachen. Dies aufgrund meiner Vorstellung, denn ich war ja auf der Männerseite, hatte die andere Tageshälfte. Ich ließ mir, als alles vorbei war, sagen, wer einen gestopften Unterrock oder eine ausgestopfte Oberweite trug und den Schweiß auf der Stirn und unter den Achseln ins Gesicht geschrieben hatte. Meine Mädchen, die dabei waren, haben es gesehen und bezeugen diesen Nachmittag, und was sie bezeugen, ist wahr (die Männerseite war auf den Vormittag befohlen), sich ebenfalls in den Boden schämend, als sie zum ersten Mal in ihrer Reihe standen und auf die Durchleuchtung ihrer oberen Körperhälfte warteten. Schöne Grüße an dein Muttertier.
Als mich nämlich die Aufforderung erreicht hatte, der Befehl, zu dieser Untersuchung zu erscheinen, fielen mir sogleich meine Achselhöhlen ein, die fehlenden Haare, die Haare, die nach Geschlechtern getrennt gezählt würden, meine zu kaltem Schweiß geronnene Angst, das erste Mal das Wort negativ - das alles war jetzt, Jahrzehnte später, nur noch ein Gelächter wert und versetzte mir doch einen Stich im Augenblick, als es, nein: ich, als ich mir selbst wieder einfiel.
Schon damals musste sich mein Nebenmensch nicht schämen, dicke Haarbüschel quollen ihm aus den Ohren, aus den Achselhöhlen, aus dem Bauch.
Aber was war mit mir?
Ich war vierzehn und ganz mangelhaft. Das konnte ich jetzt in Pico Grande berichten. Der Stellungsbefehl, die Karte, die ich noch vor mir sehe und mir (zusammen mit anderen über die Jahre verstreuten Nachrichten) das Leben schwer wie ein Schatten machte, war durch die Zeit nicht viel mehr wert als eine Erzählung mit entsprechendem Gelächter. Meine Angst war zu einem Witz geworden.
Hätte zu einem Witz geworden sein können, wenn nicht das fehlende Muttermal gewesen wäre.
Aber am meisten gelacht wurde, als sich herausstellte, dass selbst in Pico Grande diese Untersuchung von Amts wegen alle Jahre wieder stattfand und genauso, als ob es zu Hause wäre, bis in die Einzelheiten der notdürftig verdeckten Scham auf der Frauenseite. Bis zum heutigen Tag sind alle, die diese Karte bekommen haben, ob sie lesen können oder nicht, erschienen, und die letzte Indianerin hat sich alles vorlesen lassen, hat ihr weißes Hemd, und was dafür galt, abgelegt und am Eingang des Röntgenwagens gewartet, bis sie an der Reihe war.
Alles ganz wie zu Hause, nur an der Stelle der indianischen Brust und des indianischen Achselhaars meine Erinnerung an den durchsichtigen Schweiß unter meinen Achseln. Wir sind bei den meisten Dingen ganz unter uns, dachte ich, als hätte dies Tante Mausi gesagt.
Das Schweißzentrum meiner frühen Zeit, meine Nasszellen in den Tagen vor der Messerimpfung, das war noch ein Gelächter wert, bis es wehtat.
Nun kehrten wir zu vernünftigen Erwägungen zurück, zur Gnade des Personals, der Krankenschwester, die dem zu Durchleuchtenden das künstliche Gebiss im Mund ließ oder nicht. Das war nur zu Hause so, denn in Pico Grande gab es zwar Zähne, aber keinen Zahnersatz.
Die Stimme Rosas, die der eines Kakadus oder einer Italienerin glich, die aufgeregt von einer Wäscheleine zur anderen mit ihren dicken Oberarmen und ihrem Unterrock heiße Tage auf dem Balkon verbringt und ihr scharfes »E!« herausstößt, warf sich zu mir.
»Was war mit dir?«, wollte sie wissen. Wusstest du schon, was Liebe ist? Ich? Mit meinen Unterhemdchen und Unterärmchen?
Sie, meine Muse, sollte mir nun erst recht alles zeigen, alles, was es zu sehen gab, alles, was sie sahen.
Wollte sie erst mit der Höhle beginnen oder zu den Opfern der Maul- und Klauenseuche, die unverbrannt und unbegraben in einer natürlichen Mulde am Weg in die Kordilleren lagen, hinausfahren?
Ich entschied mich für die Kordilleren, denn ich habe das Leben unter freiem Himmel immer irgendwelchen Höhlen vorgezogen und hatte praktisch mein ganzes Leben im Freien verbracht, wo ich ganz frei war und nur der Gefangene meiner selbst.
Ich war immer gerne gefahren, das hieß doch: weggefahren, sodass mein Leben, wäre es verfilmt worden, ein Roadmovie gewesen wäre, in dem das Leben mit dem Sterben zusammenfiel.
Nach einer halben Stunde schon waren wir am Ziel, unweit von See No. 3. Nur die Geier, die aber nicht Geier hießen, sondern einen anderen Namen hatten, der mit Condor verwandt war, machten sich noch über die blauverfärbten, zu Monsterleibern verwandelten sterblichen Überreste her, und Neugierige, denen dieser Anblick nichts Gutes verhieß.
Alles war nur eine relativ kurze Zeit zu sehen.
Ich konnte Rosa verständlich machen, ihr versichern, dass es das auch bei uns gab. Ich ließ sie Maul- und Klauenseuche auf Deutsch nachsprechen. Maul- und Klauenseuche - das war nun wie das Geknurre eines Hundes, eines kleinen Hundes. Anschließend lachte sie kurz und hart über das Wort und wiederholte laut: »Mau- un-Klauenzeuch-« und wollte wissen, ob sie das richtig sagen konnte. Tatsächlich. Sie hatte die Oberarme einer Süditalienerin, einer Neapolitanerin, die im Unterrock am Fenster steht - es ist unbeschreiblich heiß und das Leben manchmal ein Fest.
Der Ausbruch meiner Maul- und Klauenseuche lag lange zurück. Als ich aber den ungeschützten Haufen sah und sah, dass die Zeit zugleich verging und nicht verging, schwindelte ich: nur eine kleine Schwäche.
Dies war das deutlichste Zeichen, das ich bisher in Pico Grande erhalten hatte.
Wir saßen wieder zu dritt vorne im Chevrolet, Mario, der Sohn der Doctora, saß am Steuer, nur die Scheiben und ein Sicherheitsabstand trennten uns noch von den auseinanderbrechenden Leibern. Aber Rosa wollte alles sehen und wollte mir alles zeigen, wollte von Mario ganz nah hingefahren sein, so nah, dass es für ihn anschließend ein Kunststück war, wieder herauszufinden, ganz nah. Die Scheibe hinuntergedreht, und wiederum war ein gewaltiges, abscheuliches »E!« zu hören, wie ich es selbst von Rosa noch nicht vernommen hatte.
Ich erschrak über alles, am meisten des Schreis wegen, der die monströse Begeisterung über das Entsetzliche nicht zurückhalten konnte. Des Anblicks wegen, der mich in die früheste, überwunden geglaubte Zeit zurückwarf, in meine Angst vor den Toten und die Todesangst.
Das ist alles ganz natürlich, gab ich ihr zu verstehen und dachte an mein tatsächliches Leben und versuchte alles mit dem Wort »natürlich« wegzuwischen, mit dem Schwamm der Vernunft. ... von allen Seiten natürlich, von oben, im Anflug, auf Augenhöhe, von unten her, schließlich von innen heraus - die Natur mit ihren vom Licht strebenden beziehungsweise alles durchdringenden, alles mit allem verbindenden, in allem aufgehenden Würmern und Elementen: »Nur natürlich«, sagte ich. Alles ganz natürlich, selbst meine wie die Maul- und Klauenseuche ausgebrochene Todesangst.
Habe ich das wirklich gesagt oder nur gedacht?
Ich sagte noch einmal das Wort »Maul- und Klauenseuche« vor mich hin, ein Wort, das jetzt ausgebreitet vor uns lag, ganz natürlich, selbst die so unnatürlich scheinenden und schimmernden Blautöne, blau, meine Lieblingsfarbe, ein Blau, wie ich es nie gesehen hatte. Die Innereien quollen nach außen, platzten in Blau und Rosa, in Schwarztönen, den hellen und dunklen Farben des Blutes.
Eine hochinfektiöse Angelegenheit, zu Hause wurden die zusammenbrechenden Tiere von Spezialviehhändlern mit Spezialviehwaggons abgeholt, von einem automatischen Gewinde ins Fahrzeug gezogen, die Menschen wurden wochenlang eingesperrt.
Am Rand der Kordilleren gab es keine automatischen Gewinde, keine Spezialviehhändler. Das war vielleicht der einzige Unterschied zu zu zu-zuhause.
Das Naturschöne und das Kunstschöne:
Für Rosa selbst war das alles nur natürlich, mit einem kleinen Überbau aus den USA, dass nämlich Jesus bei ihr war, alle Tage - ich mochte gar nicht so weit vordenken.
Wir stießen zurück, fuhren schon wieder auf der Straße. Sie bot mir ein Drops an, sie führte immer etwas zum Lutschen bei sich. Ich spürte ihre dicken Arme. Fast alles spielte sich im Chevrolet ab.
Wir hatten schon wieder Appetit, das nächste Asado wartete schon. Am See, wir hatten alles dabei. Auf der Ladefläche unseres Pick-ups. Bald saßen wir um das Feuer herum.
Gleichzeitig oder nebenher gab es die Angst vor dem Urwald in meinem Kopf, in meinem neuronalen Durcheinander, vor den vereinfachend Wilde genannten Menschen, die mir als Kind das Leben zusätzlich schwermachten, obwohl ich niemals einen solchen Wilden zu Gesicht bekam, der irgendwo auf der Welt seinesgleichen bis auf die Knochen abnagt, und falls es mein Gott so geplant hat, mich, den Eindringling, bis auf die Knochen abnagt, aus meinen Oberschenkelknochen zwei Halsketten geschnitzt hätte, und selbst noch mein kleinster Fingerknochen hätte für einen Ohrring gereicht, mit etwas Gold vermischt, so geschickt waren sie.
Kein Zweifel, das waren die Gedanken eines Menschen, der zwangsläufig irgendwann bei Dr. Schwellinger landen musste.
Alle meine Vorstellungen hatten sich am Tamtam entzündet, einem Missionsheft für Kinder, das mir der gute Strittmatter zur Belohnung für meine treuen Ministrantendienste, und dafür, dass ich das Confiteor als Einziger fehlerfrei aufsagen konnte, geschenkt hat, einen ganzen Jahrgang ausgelesener Exemplare, ja, damals wurde noch gelesen, die Bücher der katholischen Borromäus-Bücherei alle mehrfach, wie auch die Schulbücher, die von Tintenfinger zu Tintenfinger weitergingen.
Ich hatte gelesen (nein: hineingelesen), dass sie sich damals gerade in der Gegend, an diesem See, aus lauter Lust einander aufritzten, die Araukaner, und so fort, denn der Tod war ein Fest, und ein Mann berauschte sich am Blut des anderen. Das Blut wurde nicht gesalzen und nicht versüßt, nicht gekocht und auch nicht zu einer Blutwurst gemacht oder sonstwie verfeinert. Man nahm einfach den nächstbesten Gefangenen, öffnete sein Herz mit einem scharfen Gegenstand, einer Art Messer, und schlürfte und trank in vollen Zügen und berauschte sich an Blut und Leben, bis alles aufgesogen war. Dann ließ der Berauschte ab, schon war er wieder nüchtern und versteckte sich hinter dem nächsten Calafatestrauch.
Die Frauen, die außerhalb in ihren Ställen zusammenhockten, warteten nur noch darauf, herausgelassen zu werden und die Innereien auszulutschen, dachte ich mir dazu.
Im Tamtam stand davon nichts.
Möglichst weit weg von der Natur!
Das wäre die Rettung, dachte ich jetzt; ich hatte keinen anderen Wunsch, als möglichst weit weg von der Natur, dem Naturschönen und allem, was mich in seinen Ketten hielt.
Genau an derselben Stelle wie im Urwald floss das Blut, und es gab dieselben Blutgruppen mitten im Urwald. Nicht nur die Sternzeichen wurden geteilt, auch das Blut. In jedem von uns, in unseren Flüssen, lichtlosen Flüssen, schwammen die ersten Regungen des Lebens mit.
Ich stand auf Menschenfresserboden.
Von dort hinten war er gekommen. Hier hockte er auf dem Boden, einst, dachte ich, und ich sah es jetzt, hier nagte er an seinem Knochen herum.
Ich hätte erschaudern können, doch wies mich meine eigene grausame Herkunft in die Schranken. Der KZ-Arzt Mengele kam ja auch von der Donau und lebte vielleicht immer noch, wie es hieß, in dem Land, in dem ich nun auch lebte, vielleicht ganz in der Nähe, und ich hatte auf dem Weg hierher in Buenos Aires möglicherweise neben ihm gesessen, und wir hatten zusammen gehört, wie Libertad Lamarque im Radio El dia que me quieras sang.
Die Wilden, sosehr ich mich an ihrer Wildheit berauschte, beherrschten doch nur das kleine Einmaleins der Grausamkeit, während ich dem Großen Einmaleins entstammte.
Geradezu rührend die Geschichte vom Tod eines dieser Wilden, der sich schlafend stellte und seinen Lieblingssohn mit in sein Grabbett nahm. Und dass jede überzählige Frau getötet wurde, ich weiß schon. Ein paar wenige hat man in ihrem Stall zusammengesperrt und nur zur Arbeit herausgelassen. Tag und Nacht war dieser Stall abgesperrt. Die Frauen sprachen nicht und konnten auch nicht sprechen. Sie hatten nur eine kleine Stallsprache entwickelt, die kaum über ein Grunzen hinausging. Die kleinen Mädchen wurden wie die Hühnchen aussortiert. Nach ein paar Wochen schlug man ihnen den Kopf ab und machte eine Suppe aus ihnen. Noch bei den ganz Wilden regierte die Logik des starken Geschlechts. »Mögen andere von ihrer Schande sprechen«, dachte das Kind in mir, das alles wissen will und auf nichts eine Antwort bekommt.
Ich hörte von der wiedergeborenen Rosa, dass ihre hiesigen Vorfahren, denen sie sich ferner glaubte als ich mich den Germanen, aus Blut eine Suppe machten, die himmlisch schmeckte. »Ganz so wie den Japanern das aus einem lebenden Affen gelöffelte Hirn«, ergänzte ich.
Aber Rosa strafte mich mit ihrem Unglauben. Sie wollte es mir nicht glauben.
Aber so viel wussten wir: Die Geschichte, diese ganze Geschichte war für uns beide eine Zumutung, der Rest war Natur, und die hatte ihr Gesetz, von Gott so gegeben, über das der Mensch nicht hinauskonnte und niemals verstand.
Dies alles neben unserem Asado her, diesem himmlischen Grillfleisch, wie ich es nicht besser bekommen habe anderswo auf der Welt. Ja, ich biss hinein, und alles war gut.
Sieht jetzt mein rechter Schuh wie mein linker aus?
Bin ich eine Missgeburt, dass ich im Gleichschritt nicht gehen kann?, fragte ich mich.
Diese Fleischfresser! In die Wurst mit ihnen! Es war ein heißer Tag, ich gebe es zu.
Nun war ich da. Saß da und dachte, dass ich nun da saß.
Da saß ich nun.
Die Geschichte meines Heimwehs hatte ich bisher noch nicht ins Auge gefasst, aber jetzt, an meinem Lieblingsplatz, auf meinem Friedhofshügel am Ende der Welt, konnte ich mir ein Bild machen, woher ich kam, und auch, wohin es mich zog.
Als Kind ließ ich die ganze Sonne hinter meiner kleinen Hand verschwinden, das war möglich. Ich hielt einfach meine schützende Hand vor die Augen. Woher rührte das Händchen? Es waren niedrige Verhältnisse, in jedem Fall funktionierten die Organe.
Ich erinnerte mich an das Geheul meiner Katze, die in der Katzennacht auf der Suche nach der großen Katze war. Meine Katzen, die sich eben noch um nichts in der Welt voneinander hätten trennen lassen, durch keine Haselrute und nichts sonst, jagten schon wieder auseinander.
Ein Stein genügte, und das Glück war in zwei Teilen.
Und doch
Man war mit mir angeln gefahren. Ich sollte angeln. Man hatte eine Angel für mich mitgenommen. Als wir (Galina, Mario, ich) am Fluss angekommen waren, der sich durch die Hochebene schlängelt und eine Verbindung zwischen diesen schönen kalten Seen und dem Pazifischen Ozean herstellt, hatte mir Mario von der Ladefläche weg gleich meine Angel entgegengestreckt und »deine Angel« gesagt. Ich hatte sie auch noch in die Hand genommen und war hinter Mario her die wenigen Schritte zum Ufer des Corcovado gegangen, hatte dann aber meine Angel auf den Boden gelegt. »Willst du nicht einmal sehen, wie er anbeißt?« Lustlos griff ich nun doch zu meinem Gerät, ließ mich antreiben von dem Mann neben mir und seiner Mutter hinter mir und versuchte, es zu machen, wie alle es machen, wie man es macht. Meine Angel - wir beide wackelten etwas, wir zitterten, es war eben das erste Mal. Mario machte mir vor, wie ich den Haken ins Wasser werfen, wie ich die Angel halten und wie ich hinsitzen und lauern und schweigen sollte.
Und so saß ich eine Zeit. Wie Mario es vorgemacht hatte, selbst in der Haltung einer elastischen Angel, warf ich dieses Gerät über mich hinaus, irgendwo in Richtung Wasser. Ich hatte meinen Gastgebern natürlich verschwiegen, was für eine unglückliche Figur ich immer schon, vom Schneeballwerfen an, gemacht habe. Jetzt konnten sie sich das denken. Zu meinem Unglück hatte ich plötzlich das Gefühl, dass etwas an meinem Angelhaken herumbiss. Ich wollte es vertuschen, aber Mario, der mich wie nebenbei beobachtet hatte, gab mir mit seinem ganzen Körper ein heftiges Zeichen, jetzt fest zu kurbeln und die Angel gegen mich zu ziehen, und auch etwas in die Höhe, so wie er's mir vorgemacht hatte. Doch ich ließ die Angel hängen und kurbelte in die falsche Richtung. Der Haken hing unsichtbar tief im Wasser.
War schon der Glaube Marios, der die einzelnen Spieler aller Mannschaften der Bundesliga auswendig aufsagen konnte, sein Glaube an den Kampfesmut (der sich ja zunächst spielerisch und sportlich zeigte), an den Kampfgeist der Alemanes durch meine Auskunft, ich sei noch nie angeln gewesen, habe bisher in Pico Grande nur einmal auf einem Pferd gesessen, um nach Sekunden schon wieder herunterzufallen, war dieser Glaube an eine Überlegenheit, deren Repräsentant ich sein sollte, schon gleich am Anfang meines Erscheinens und Auftretens erschüttert worden, so war er nun - vielleicht für immer - zerstört. Das sah ich, aber er schwieg freundlich und verlegen.
Ich hatte gehört oder gelesen, dass Frauen an sich die besten Lachsfängerinnen seien, die Experten hatten noch nicht herausgefunden, warum. Vielleicht dieses betörenden Aromas wegen, das auch auf diesen Königsfisch, der unter Wasser auf seiner Suche nach dem großen Fisch dem Albatros über Wasser entspricht, der, ich weiß nicht, warum, in der ganzen Welt herumfliegt, eine enorme Anziehung ausübt. Aber Galina, schon hungrig, saß zusammen mit Rosa hinten beim Grillfeuer. Sie waren für die Zubereitung der Beute zuständig, machten sich auch schon an den Gewürzflaschen und dem Brotkorb zu schaffen. Sie warteten auf den ersten Fisch, den Mario schließlich mit schon abgeschnittenem Kopf und Schwanz auf den Grill legte. Sie wollten ihn nur noch würzen, verfeinern und von Zeit zu Zeit von der einen auf die andere Seite drehen.
Ich sollte es noch einmal versuchen. Pustend und errötend streckte ich mich also noch einmal über mich selbst hinaus. Ich stand an der Kante des eiskalten Wassers, und es war ein Wunder, dass ich nicht hineinfiel. Das war geschafft. Nun versuchte ich wie Mario, wie ein Angler, wie ein Mann dazusitzen. Umsonst.
Es geschah nichts. Ich saß da, vermutlich so, wie ich im Krieg auf den Einschlag einer Granate gewartet hätte.
Es war ja nur mein Glück, dass nichts passierte. Schon war ich etwas aufgeheitert und wollte anfangen zu plaudern. »Ich« konnte ich gerade noch sagen, da machte Mario ein Gesicht, als ob ich ihm das Leben verpfuscht hätte.
Habe ich das tatsächlich, wenn auch nur augenblicksweise? Er hatte doch schon genug gefischt, die lautlosen Tiere mit dem Haken im Maul, dem Widerhaken, mit ihrem ganzen Gewicht und Leben an diesem Haken hängend herausgezogen, mit der Hand (die Hände sehr geschickt, der Fisch kaum blutend) den Haken vom Maul, das Maul vom Haken gelöst und den Lachs in die Wanne geschmissen, wo er sich etwas erholen konnte, verschnaufen, sage ich vereinfachend. Denn nicht jeder Fisch bekam sogleich eins hinter die Kiemen, nur die auserwählten Exemplare, die zu unserer Gaumenfreude vorgesehenen. Die anderen durften noch etwas im flachen Wasser weiterschwimmen. Dann hatte er doch genug gefischt, auch er die Lust verloren, so wechselte er bald von seiner Lust in die Politik und die Raumfahrt. Die Russen flogen schon seit Wochen wieder in einer Umlaufbahn, doppelt bemannt. Das war ein sichereres Terrain für mich. Allerdings haperte es bei mir mit der Sprache etwas. Dieser Satz war eine Steilvorlage für Mario, denn er war zweisprachig, mit seiner Mutter sprach er Russisch (sie war wohl die Einzige in Pico Grande und in der ganzen Provinz Chubut, mit der er diese Sprache sprechen konnte), und mit den anderen sprach er Spanisch. Dennoch hatte Mario aus diesem Kapital auf lange Sicht nichts gemacht. Die Fische verstanden genauso gut Spanisch, und mit Mario würde dereinst das Russische in Patagonien untergehen, seine Kinder sprachen kein Wort. Der Lachs schmeckte, nebenbei, gegrillt ausgezeichnet. Auch der Wein. Immer gab es diesen dunklen, erdigen, hinreißenden und hinabziehenden Mendoza. Das Fangen, Töten, Braten und Verzehren eines Lachses etwa und Wein dazu: kaum ein Vergnügen sonst gab es hier, es war so gut wie das einzige. Wir fuhren mit unseren Angeln, unseren vollen Mägen und unserer restlichen Beute nach Pico Grande zurück. Mario hatte einige überflüssige Lachse und Forellen zusammen in seine Wanne auf der Ladefläche geworfen, ein wenig Wasser dazu. Wahrscheinlich lebten sie noch.
Es war Teezeit. Ich sollte noch zum Tee bleiben.
Die gelben Rosen hingen als Leuchtzeichen vor dem Fenster. Wie steht die Mark? Umrechnungskurse gehörten zu den Gipfeln in ihrem Leben, Dollars, die Mark, aufladbare Batterien ... Die Rosen blühten gerade da, wo man sie hingesetzt hatte, mit ihrem kleinen Schwergewicht, kurz vorher, kurz nachher.
Nach einer Weile fragte mich die Doctora, ob es stimme, dass Fritz, mit dem sie seit geraumer Zeit schmollte, »wie es nur Elefanten und Russen können«, sagte Tante Mausi immer, jetzt auch noch ein Kaninchen im Haus habe. Zusätzlich zu den Ratten, dachte sie, auch noch Kaninchen, die sich mit den Ratten zusammentaten, gegen den Strich und geschlechtsunabhängig, ganz zum Vergnügen, folgenlos.
»Wie war's?«, fragte mich Concetta, eine Halbschwester von Mario, die aber von der Doctora nicht adoptiert und auch nicht im Russischen unterwiesen worden war. Sie war als Hausmädchen angestellt, eine von den Tehuelche-Indianern, die es immer noch gab. Und den Tee im Samowar zubereitete, auf Russisch, so wie ihr das von Galina beigebracht worden war. Dann machte sie einen Knicks und zog sich zurück, als wäre sie in Sankt Petersburg.
Sodann sprachen wir wieder von Meier, mit dem ich nächste Woche nach Bariloche fahren sollte, ein Ereignis, von dem in Pico Grande schon jetzt gesprochen wurde, so flach war es im Münsterland, dass man schon am Montag sehen konnte, wer am Samstag auf Besuch kam.
Mochte Meier auch beschränkt sein, war er doch eine treue Seele, ein treuer Hund, wie das, glaube ich, auf Russisch heißt. Auf der ganzen Welt wussten vielleicht nur zehn, zwölf Mensehen, wie es war. Das Traurige an jener Erkenntnis blieb für mich, den auf diese Welt der Verschwörungen Gestoßenen, dass diese wenigen die Welt wohl nicht retten würden.
Die Doctora hatte Beweise, dass es so war, wie es war.
Es war alles so sehr verquickt, deutete sie an, dass schon das Durchleuchten eine Sisyphusarbeit war, wie viel mehr erst das Nacherzählen oder gar die Rettung. Zehn bis zwölf Menschen auf der ganzen Welt waren in der Lage dazu, schätzte sie ab.
Mario nickte ermunternd. Aber es blieb unklar, ob er dieselbe Verschwörung meinte wie die Doctora. Man durfte nicht alles sagen und verraten. Wir waren uns einig, dass sich die Welt jetzt in einem besonders gefährlichen Augenblick befand. Es ging um alles.
Ab und zu schaute sie sich um, als ob sie eine Explosion befürchtete, hörte mir aber weiter zu, als ob nichts wäre.
Kuchen gab es keinen. Aber Galina war schon dabei, mir einen Schöpflöffel Marmelade in den Tee zu tun. Das war vielleicht in Russland, wo ich bis dahin nie gewesen war, so üblich. Ich konnte gerade noch »die Kalorien« sagen, doch es war zu spät. Wieder fragte sie mich nach Deutschland und nach dem neuesten Dollarkurs. Wir tranken Tee, aber ich schämte mich noch immer wegen der Angelschnur, die unglücklich im Wasser hing, und wegen meiner unglücklichen Figur, wie ich jetzt dasaß, wie sie mich anschaute, in mich hinein-, mich durchschaute. Sie hat dich durchschaut, dachte ich. Die unglückliche Figur an der Angel wurde nun von der unglücklichen Figur am Teetisch abgelöst. Unglückliche Figuren, die sich der Reihe nach herausstellten. Kam ich nicht schon ganz allein hier an, reiste ich nicht ganz allein durch die Welt, nicht einmal mit einem Hund unterwegs?
Aber sie dachte vielleicht gar nicht so weit, wie meine Angst reichte. Sie kam mit Wünschen auf mich zu, fragte nach den Burda Moden, dem Spiegel oder sonst einer Illustrierten, fragte nach aufladbaren Batterien. Stellten sie nicht über Drähte und Blech die Verbindung zur Welt her? Mario war hinausgegangen.
»Gehen wir bald wieder einmal fischen.« Es bedeutete das Gegenteil einer Frage. Ich atmete auf, suchte erleichtert nach ein paar Worten Russisch. Schon mein bald abgebrochener Russischkurs hatte mit einem Satz zum Radio begonnen: »Baris slusched radio« (Boris hört Radio). Sie wiederholte und verbesserte mich. Der Satz klang wie ein hohles Fass.
Ich hatte es noch nicht aufgegeben, nach meinem Onkel zu fragen. »Onkel war lieber Mensch, doch für Medizin zu spät. - Ich merkte nur, dass Don Antonio am kommenden Mittwoch nicht zum Tee kam.« Sagte sie.
Das Leben in der Fremde verband sie. Doch irgendwie vernahm ich, dass es eine andere Fremde war.
Beide waren in Chatwins erstem Buch gelandet, als wären sie zwei von jenen schrägen Menschen gewesen, mehr Wracks als sonst etwas, die ich später an der Magellanstraße sah, die seine Welt bevölkerten; ich hatte bisher, in meinen wenigen Tagen, schon viel gesehen, nur solche Menschen nicht wie jenen irischen Missionar, der ein Leben lang in Neusüdwales am Meer saß, abwechselnd betend und schnorchelnd - oder beides zugleich? Und dann in Chatwins Buch gelandet war, und da saß er nun, verwandt mit allen schrägen Menschen, die irgendwo auf der Welt schräg auf ihrem Stuhl herumsaßen, als hätten sie auf nichts anderes gewartet als auf Chatwin.
Wenig später saß ich auf demselben Küchenstuhl wie Chatwin in Don Antonios verlassener Küche und sah durch dasselbe Fenster zum Friedhofshügel hin.
Und beim Lesen dachte ich, er habe meinen Onkel mit einem anderen Onkel verwechselt und die Doctora mit einer anderen, vielleicht mit Nadeschda Mandelstam. Dass er vielleicht seine Erinnerung durcheinandergebracht habe.
Oder vielleicht der Verlag seine Seiten.
Bald war Chatwin tot wie Nadeschda (»Hoffnung!«) Mandelstam, die damals noch vor seinen Augen mit ihren Brüsten spielte. Tot wie die Mandelstam - Kann man das sagen? Ist das ein Beweis? Tot wie mein Antonio, »tot wie immer«, sagte ein Philosoph, tot wie immer, ist das deutsch?
Die Doctora war böse, als ich ihr mit diesem Engländer kam. Ganz Patagonien war böse auf Chatwin. »Wir sind doch auch Menschen!«, sagte sie. »Aber Fritz hat er nicht entdeckt! Seinen Braque hat er nicht gesehen. Dabei kam er doch von der Kunst!«
In Patagonien durfte ich Chatwins Namen nicht nennen.
Die Doctora erzählte mir, wie mein Onkel ihm von Wilson und Evans erzählte, den Banditen, damals in ganz Amerika gesucht und wenig später auf »unserem« Grundstück, dachte ich schon, begraben. Das Grab habe er ihm freilich nicht gezeigt. Chatwin hat einfach die Stelle fotografiert, wo ihr Onkel seinen Lieblingshund bestattete! Und das Bild kam als Banditengrab in sein Buch. »Bueno«, sagte sie.
»Wir sind doch auch Menschen!«, sagte sie.
Ich stieß auf das Tal des Todes
Das Tal des Todes war in meiner Karte grün verzeichnet, hart an den braun und weiß vermerkten Flächen, die den ewigen Schnee anzeigen sollten.
Mein schon zu Hause auf der großen Karte ausgemachtes Tal lag nur ein paar Meter über NN. Immer, wenn ich irgendwo war, schon zu Hause, wollte ich sehen, wie das auf der Karte aussah, wo ich war, und im Flugzeug, das einen Monitor hatte, ließ ich mir immer auch noch einmal zeigen, wo es war, wo wir gerade waren, wenn ich zum Fenster hinausschaute.
Kurze Begründung: ich suche ... Das Tal des Todes war ein Seitental von Pico Grande, und ich sagte ihr von meinem Befund nichts, und sie meinte, es wäre eine Traurigkeit um mich, wenn es war, was es war.
Sie wollte eigentlich nicht hin. Was gibt es da schon zu sehen, meinte sie. Nur weil es mein Herzenswunsch war, verschaffte mir Rosa eine Gelegenheit, in mein Tal zu kommen, dessen Name jeden, der am Leben war, abschreckte. Zu Fuß war es zu weit.
Ich, ohne Fahrzeug, war also auf ihre Hilfe angewiesen, und dann machten wir doch einen Ausflug, ganz stumm, ganz ohne Gelächter. Ich hätte abermals auf den Fisch zurückgreifen müssen, dieses Fleisch, dieses von meinem Fleisch entfernteste Leben, das nicht schreit, das du abstechen kannst und aufspießen, und es bleibt stumm wie ein Fisch.
Verklebtes Haar, die Augen flüchteten sich in die Araukarien vor dem Autofenster, und dann fuhren wir schon wieder zurück.
Nach dem Fest
Wir saßen zunächst auf einem Fest, nicht irgendeinem, ich feierte meinen Geburtstag, es war, glaube ich, mein einundzwanzigster Geburtstag, und nun waren, wie zu Hause an Silvester, bunt zusammengewürfelte Leute um mich, die sich das Jahr über gar nicht sahen, und vielleicht überhaupt noch nie gesehen hatten, und umarmten sich mit Sekt und wünschten sich ein gutes neues Jahr. Und in der Bar El Bolson versuchten sie nun Happy Birthäay zu singen. Und es gab auch etwas zu trinken, sonnengeschwängerten Mendoza.
Es war ganz wie zu Hause, ich konnte es nicht verhindern.
Wir Menschen und Tiere, Rosas Hund, alle, die sich ungeregelt vermehrt hatten, saßen schon wieder bei Wein und Gelächter zusammen. Dabei hätte es doch gar nichts zu lachen gegeben.
Einer von den Gästen konnte zaubern, nebenher Witze erzählen oder umgekehrt, und der Mensch lachte.
Richtig gelacht wurde aber erst, als zum ersten Mal das Wort »ficken« fiel. Ein aufgekratztes, Empörung spielendes Gelächter auf der Frauenseite war es, kaum dass das erste Glas getrunken und dieses Wort aus irgendeinem Mund herausgeflutscht war.
Rosa beobachtete mich am genauesten, während sie am lautesten mitlachte.
Doch ich konnte darüber nicht lachen, ich war elektrisiert. Meine Ekstasen waren nie mit einem Gelächter verbunden.
In unseren Bäsle-Briefen, den Bäsle-Briefen, in denen ich ihr, meiner Cousine und Brieffreundin, von meinen Hobbys berichtet hatte (wobei ich das wichtigste, im Lauf der Jahre entscheidende Bedeutung gewinnende vorschwiegen hatte), war es niemals zu einer Doppeldeutigkeit gekommen. Ich konnte nicht wissen, wie Rosa im Leben war, ich wusste nur, wie sie in den Briefen war. Ich kannte ihre Stimme noch nicht, ihre schönen Oberarme. Aber die richtigen Bäsle-Briefe hatte ich auch im Reisegepäck. Nachdem ich ihr schönes Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte, live, und zum allerersten Mal ihren schönen Arsch, ihr Gebirge, das anderswo eine Kapitalanlage gewesen wäre, das mir nicht einmal als Fotografie bekannt gewesen war, bekam ich Angst vor ihr, ihren Händen und Füßen, selbst ihren Sandalen mit den darin eingezwängten, nachlässig, aber rotviolett lackierten Zehennägeln. Ich gebe es zu.
»Ficken« - sie lachte von ganz unten her.
Die Bäsle-Briefe, die richtigen, die ich (als Simultanübersetzer und im Groben) vorlesen wollte, wies sie von sich, wollte sie nicht hören. Schon als bei Mozart das erste Mal das Wort »scheißen« fiel, brach sie ab: Lass mich mit den Bäsle-Briefen in Ruh! Sie lachte bei »ficken«. Hatte sie niemals eine Erscheinung gehabt, hatte sie nie gesehen, dass dabei die Nacht nicht mehr so dunkel war? Und ich?
Warum lachte ich nicht?
Eine Erscheinung ... Niemals hatte die Madonna gelacht, wo immer sie erschien. Und Jesus selbst, damals noch meine letzte Instanz, hatte man nie lachen sehen. In der ganzen Bibel stand davon kein Wort.
Und so hatte es mir auf meinem Fest den Atem verschlagen, als ich sah, dass es ihnen nicht den Atem verschlagen hatte, dass sie das Gegenteil davon taten: Sie lachten, als sie das Wort »ficken« hörten.
Genug davon. »Ficken«, kein schönes Wort, aber schön, zum Zittern? Und an dieser Stelle stieß ich abermals auf das Tal des Todes.
Zurück zu den Gästen!
An den Tischen streunten die Blicke noch.
Jeder wurde von der Liebe hingehalten. Er hatte sich Lust angetrunken. Jeder Tag war Vatertag.
Es war Sommer. Im Fernsehen, das es erst seit kurzem gab, und nun schon die ganze Zeit nebenherlief, Cantus firmus einer weltweiten Langeweile, sah man dazu Badehosen.
In Pico Grande war es zu kalt fürs Wasser.
Die schwarzen Schwäne kamen von Norden her.
Man konnte sie abschießen und liegen lassen.
Ein Sommervergnügen.
Der Sommer, ein Handstreich des Himmels.
Die Menschen lebten auf, wuchsen über sich hinaus. Die Festsitzenden wurden grün vor Hoffnung.
Anfang Dezember dann die Rosenblüte.
Die patagonische Rose, eine wilde, eine gelbe Erscheinung.
So kamen mir Gedankenfetzen und halbe Verse in den Sinn.
Kam ein Gast, wurde er herumgereicht so wie ich. Brach ein Puma ein, sah ihn außer dem Opfer niemand. Das nicht richtig abgenagte Bein, zum Zeichen, dass der Hunger nicht so groß war.
Das Ende der Welt war eine Redensart
Von Pico Grande aus machten wir uns vorerst nach Rio Mayo auf, das in der ganzen Gegend als das Ende der Welt galt. Das wusste ich schon aus den Briefen, in denen ich (ein Kindskopf) nach Sehenswürdigkeiten der Gegend gefragt hatte. Das Ende der Welt - gewiss nur eine Redensart, denn hinter Rio Mayo ging es noch weiter, da waren noch Berge, Kondore, Schnee, schließlich Wind und Wolken. Sie waren zusammen mit dem Wind schon da, als wir wegfuhren. Der Wind legt sich gegen Abend vielleicht, nicht so schön wie das Abendrot, aber beständiger. Weitertreiben, dachte ich, vom Mitmenschen zum Yeti, ein schönes Bett finden, im Schnee, von ihm sich wärmen lassen.
Rosa, Patricia und Norma und ich, wir vier, darüber unser Himmel und seine Wolken. Die Straßenpiste, übertönt vom Kassettenrecorder und seinen wechselnden Kassetten, die alle auf die Liebe hinausliefen, ein milchgrüner See, ausgetrocknete und austrocknende Gerippe, Stunden um Stunden, dann schließlich das unspektakuläre Ziel, zuerst am Horizont, endlich - es mochte noch einmal eine Stunde vergangen sein -, aus nächster Nähe, die einzige Bar von Rio Mayo, zum Weinen.
Da - eine Dicke, der die zwei wichtigsten Zähne des Lebens fehlten, die sogenannten vorderen Schneidezähne, meine mitgereisten Frauen lachten. Schlimm sah es aus, aber nicht so gefährlich wie meinesgleichen mit seinem vollständigen Gebiss. Ein Teil ihrer Haare war auch verloren, der andere hing fettig und verstört in der Landschaft. Sie saß auf einem Eisenstuhl am Fenster, stierte von uns weg und zu uns her.
Sie wusste, dass das mitgebrachte Gelächter ihr galt, wem sonst. Es war wohl nicht das erste Mal, sie wehrte sich nicht.
Ich wollte in diesem Augenblick (das einzige Mal in meinem Leben) Zahnarzt sein, ein einfacher Zahnarzt, nichts als Zahnarzt, mit meinem Zahnbesteck zu ihr hingehen und sie bitten, den Mund zu öffnen. Während ich mit meinem Besteck und dem Spiegelchen, hätte sie mir ihr Leben - Doch das Einzige, was ich tun konnte, war dagegenlächeln, das Gekicher meiner Cousinen unschädlich machen, verflüssigen, die Salzsäure neutralisieren.
War sie nur Gast in der Bar, die auch noch einen Namen hatte und Las Plumas hieß? Wir standen schon eine ganze Zeit an der Theke, die Dicke (mein Oberbegriff, ich hätte auch die Fettige oder die Schneidezahnlose oder die Verlorene sagen können, sagen müssen) saß auf dem Eisenstuhl, sonst nur Männer.
Da trat durch einen Plastikvorhang diese Frau und errötete, als sie uns sah. Macht nichts, wir sind nur auf der Durchreise. Die Reisenden fragten nach Coca-Cola, um ihr das Leben nicht so schwerzumachen. Cola gibt es nicht. Am Ende der Welt verschlug es einer schönen Frau die Sprache, weil sie kein Coca-Cola im Haus hatte. Macht nichts, macht wirklich nichts. Sie wollte auf der Stelle tot umfallen, aber es ging nicht. Die Scham (darüber, dass ihr Leben so war, wie es war, ihre Selbsterkenntnis) schwappte in Wellen über den Raum hinweg und erreichte selbst noch die Dicke, von da die Unendlichkeit.
Die Cousinen hatten längst ihr Gelächter eingestellt. Sie standen nur etwas künstlich auf ihren Stöckelschuhen, so, als ob sie zeigen müssten, wie es ist, wenn man von der Stadt aufs Land fährt.
Wozu also Mut zum Leben?
Ich sah bald, dass sie jedes Mal errötete, auch wenn nur ein Hund zur Schwingtür hereinkam. Kaffee, Bier und Ginger Ale -alles war möglich. Die Männer um sie herum waren alle schon in der Welt, beim Militär, im Provinzgefängnis. Ihnen fehlte alles, aber in der Welt waren sie schon und hatten jenen Vorsprung, der das arme Mädchen zum Erröten brachte, dachte ich. Sie muss hierbleiben und verblühen.
Ihr Wandertrieb reicht von der Küche zum Bett. Dazwischen der Tag hinter der Theke und einer weiteren Schwingtür. Zwischen Schwingtüren. Fahren wir weiter?
Doch inzwischen hatte sie sich gefangen, hatte sich gefangen und uns nach dem Woher und dem Wohin gefragt. Aus Pico Grande - Ach, sie war noch nie in Pico Grande. Ihr größter Wunsch, von dem ich erfuhr, war, einmal im Leben nach Pico Grande zu kommen.
Sie hatte von der Höhle gehört und den anderen Sehenswürdigkeiten, von denen ihre Lastwagenfahrer zurückkamen. Und dann, als die Cousinen schon hinausdrängten (sie wollten die Zeit nicht verschenken), wollte sie meine Hand haben. Sie wollte noch aus meiner Hand lesen. Gib ihr die Hand, was weiß sie schon von deinem Leben und Muttermal!
Aber jetzt wollten plötzlich auch Rosa, Norma und Patricia aus der Hand gelesen haben und hatten beide Hände (sie wussten nicht, welche von beiden die rechte war) lesebereit auf die Theke gelegt, kaum dass die Wahrsagerin beim unvermeidlichen, von allen erwarteten Höhepunkt, der auch am Ende der Welt mit dem Wort »Amor« benannt war, angekommen schien. Was war mit der Liebe bei mir?
Die Lebenslinien waren bis hierher vorgedrungen.
Um das Wort »glücklich« herum angesiedelte Wörter, war das alles? Rosa genügte es. Sie wollte nichts anderes hören. Die Liebe war ein Glaube, der Berge versetzte. Ich zog meine Hand zurück, unterbrach das Lesen. Ich lächelte, sie um Entschuldigung bittend.
Da war das Fenster zur Straße hin, von ihm her erhoffte sie Leben. Die Musik, die aufladbaren Batterien, die Lastwagenfahrer. Sie lächelte, als ob sie einen fehlenden Zahn verbergen wollte. Richtig zu lächeln hatte sie den Mut nicht, aber das wenige von ihr war so viel wie ein schöner Tag, wie eine Sonne, die über Lebenden und Toten aufging.
Der gewöhnliche Gast blieb zwanzig Minuten. Gäste auf der Durchreise so gut wie nie.
Wir sagten auf Wiedersehen und waren bald wieder unterwegs mit den Wolken.
Ich atmete, ich lebte
Kaum hatten wir das Tal des Todes verlassen, schloss sie ihr Herz auf, sagte: »Die Liebe ist ein Glaube, der Berge nicht versetzt.« Ich atmete schwer, ich lebte.
Draußen muss man sich immer eine Steilwand von hundert Metern dazudenken. Am Fuß dieser Höhle lagen Pico Grande und ich, wir zwei. Das Innenleben der Schafe wurde den Geiern überlassen, die hier auch nur in der Mehrzahl auftraten, so wie die Verliebten und wir.
In der Höhle waren wir immer noch nicht gewesen. Oder soll ich es so sagen: Die Höhle hatte ich immer noch nicht gesehen.
Die Tage waren lang am Ende der Welt
Ich schaute wieder bei Fritz vorbei, die Tage waren lang am Ende der Welt.
Whisky? - Fritz hatte genauso viel gelesen wie meine Hauptfigur aus dem Nachsommer, die aus allem etwas zu machen wusste. Mein Risach verstand alles und half dem jungen Heinrich in allem.
Als ich auf Fritz stieß, las er gerade Gott im Krieg, das Buch des preußischen Pastors Remberti aus dem Ersten Weltkrieg. Er hatte die aktualisierte Ausgabe, die ohne viele Änderungen rechtzeitig zum Beginn des Unternehmens Barbarossa erschienen war. »Das war 1941!«, ließ er mich wissen. Er hasste das Buch, aber er musste es lesen.
An jenen herrlichen Nachsommernachmittagen saß der junge Heinrich beim alten Risach und wurde über alles belehrt, bekam alles in einer großartigen Weise von seinem Alten gesagt, wie es sich mit den Gewittern verhielt, mit den Rosen, mit den Nutzgärten, peruanischen Kakteen, Singvögeln, der Kunst des Zitherspiels und wie es sein soll und ist. Ich aber saß genauso alt wie Heinrich einem Alten gegenüber, der genauso alt wie der Freiherr von Risach war und ebenso viel wusste.
Fritz war vielleicht schon etwas verrückt, kein Wunder, ein Schicksal, das dem alten Risach zweifellos immer drohte und eingetroffen wäre, hätte er nur etwas länger gelebt. Schon seine Erzählung vom Jesuiten und dem Haifisch hatte Fritz aufleben lassen. Parabeln des Lebens: Seine Geschichten ließen ihn aufleben, sein Schmerz hielt ihn am Leben.
»Kann es sein, dass dieser Mann nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte?«, hätte Tante Mausi erst recht nach dieser Geschichte gefragt, als wollte sie höflich sein.
Denn jetzt folgte auch noch Gott im Krieg. Nachher wusste ich nicht mehr, was mit Gott im Krieg war, ob vom Pastor oder dem alten Fritz oder von wem sonst. Es war wie damals, als die Israeliten gegen den großen Pharao allein mit ihrem Gott waren. Da war niemand sonst, der sie herausführte oder auch herauszog. Moses kommandierte. Hinter ihm stand sein Gott mit dem großen Gewehr, und sie folgten. Die Bestie von Pharao wollte das kleine Volk nicht herausrücken. Aber Fritz war jetzt mit Gott im Krieg zum zweiten Mal auf Seite 370. Ein schreckliches Buch, gewiss, sagte er, aber nachher wusste ich nicht mehr, wer und wer alles gesprochen hatte, Gott im Krieg, der Pastor, Fritz in der Wüste, nun schon länger als die vierzig Jahre der Israeliten. So kam der Marschbefehl von oben. Keiner wusste, wohin es gehen würde. Es folgten vierzig Jahre in der Wüste!
Fritz schnappte nach Luft.
Das Untier von Pharao hat sie verfolgt. Dieser böse Trottel, wusste er nicht, dass er unseren Gott zum Feinde hatte? Wusste dieser miese Speckwürfel nicht, dass gegen unseren Gott kein Sieg zu erringen ist? Unser Gott, Gott der Heerscharen, saß mitten im Himmel, riesige Heereskontingente um ihn herum, alle Gattungen.
Nach der luziferischen Palastrevolte hat er aufräumen lassen. Einmal hat Sabaoth geschlafen, das sollte nie wieder vorkommen, und dann wieder die alte himmlische Ruhe mit ihren Sphären- und Engelsklängen wie auf dem Bild der Brüder Eyck, die gestohlene rechte Tafel war immer noch nicht aufgetaucht.
Eine Präsenz von Erzengeln, Kommodores und Flügeladjutanten wird in alle Ewigkeit jeden weiteren Abfall ersticken, meinte Remberti. Michael, der Patron der Deutschen, wurde mit Luzifer fertig, das wissen Sie. Zum Lohn dafür hat er jetzt das Kommando im Himmel. Ein eifersüchtiger Gabriel muss seither im Außendienst Engel spielen, Botschaften von oben nach unten fliegen und umgekehrt, das wissen Sie alles. Remberti sagt in der aktualisierten Ausgabe, dass unsere Soldaten gerade Kiew erobert haben und manch wundertätige Ikone zurückbringen. Sie wird jetzt restauriert, denn das Kerzenwachs hat manches Heiligenbild fast ruiniert.
Aber wie ging es im Himmel weiter?
Und in der Wüste?
Da trieb der Pharao die Israeliten gegen das Rote Meer, um alle darin zu ersäufen. Aber das ließ der Allmächtige nicht zu, weil er später noch ganz anderes mit seinem Volk vorhatte! Unsere kleinen Helden haben damals gesiegt. Moses hat die eine Hand über sie gehalten, mit der anderen schlug er jeden Ägypterkopf, der sich näherte, in den Wüstensand, wo er noch etwas davonkullerte und dann liegen blieb: Gott im Krieg. Die Gebetskommandos »Alle Mann beten« werden strikt befolgt. Von oben her verschiebt sich die Kampfeslinie plötzlich (ein Wort, das es bei Goethe nicht gibt, ließ mich Fritz nebenbei wissen). Der Pharao stutzt, das Rote Meer teilt sich. Zwei riesige Wände aus Meerwasser, aber in der Mitte Platz genug für einen freien Durchgang der Mannschaft Richtung Sinai. »Da hinein mit euch!«, befiehlt Moses. Die Israeliten wollen nicht. Er muss mit Hochverrat drohen. Bueno, kann man verstehen. Und dann dieser Gehorsam! Der Pharao, der das ganze Spiel aus sicherem Abstand verfolgt, lacht sich halb kaputt. Er lehnt sich zurück und heißt seinen Hofschreiber, er solle das Spektakel für das Archiv in Memphis festhalten. Dort solle man den Unsinn nachlesen können, verstehen Sie. Aber es kommt anders. Was hier geschah, ist nicht in einem staubigen Archiv gelandet, sondern in der Heiligen Schrift, bitte schön! Was weiter geschah, kann jeder nachlesen. Auf dem Grund des Roten Meeres mussten sie sich noch das ägyptische Gelächter mit anhören. Moses, blind von Glauben, stürzt sich als Erster in diesen unheimlichen Schlitz. Und nicht umsonst. Es war ja nur Taktik von oben, den Ägypter in eine Falle zu locken. Nur möglich, weil man unten blind gehorchte. Und was lernen wir daraus? Alle Mann sind nun bereit, sich radikal zu opfern. Und dieser Idiot durchschaute den Schachzug nicht. Jetzt erst recht! Da hinein mit ihnen! Aber das Untier vom Nil verstand nichts vom richtigen Krieg. Wusste dieser Trottel nicht, dass ein Heer zu Wasser nichts verloren hat? Der Pharao hatte ja nicht einmal eine Flotte. Israel auch nicht. Aber dafür hatte es seinen Gott, bitte schön!
Pastor Remberti schildert nun sehr schön, wie der Pharao den Kopf verliert, wie sein Pferd ausschlägt und sich sträubt, weil er es mit vollen Sporen hinterhertreibt. Eine ganz unglückliche Figur macht dieser Pharao. Aber das Schönste kommt jetzt, und oft habe ich mich daran berauscht, schreibt Pastor Remberti. Moses folgt nicht den Trugbildern der Wüste, keiner Fata Morgana. Er hört nur und tut, was von oben kommt. Er soll so lange im Wasser bleiben, bis der letzte Ägypter, allen voran der Pharao mit seiner Gürtelrose, auf dem Grund des Meeres steht. Armer Pharao! Und jetzt Klappe zu! Und jetzt ersauf in deinem Roten Meer, Belial!
Fritz schnappt nach Luft, blickt verstört zu mir herüber.
Unsere Soldaten standen an dieser Stelle von Gott im Krieg vor Stalingrad. Der Pharao war tot. Fritz müde. Moses aber erreichte trockenen Fußes die Grenzen des Gelobten Landes, das er ja nie betreten hat. Fritz nickte ein, ich ließ ihn etwas bei sich, und schon erwachte er wieder. Er hat sich sogar die Stelle gemerkt, an der er müde geworden war, die Stelle im Meer. Vierzig Jahre in der Wüste. Was heißt das schon? Gelegentlich muss ein Schaf geopfert werden, das Blut fließt in den Wüstensand, dann geht es weiter. Eine unübersehbare Übermacht an Feinden. Es schießt von allen Seiten. Die Sonne blendet dich. Nachts die Kälte. Du kannst nicht schlafen, weil dein Feind in deiner Nähe hockt und mit seinem groben Eisen nur auf dich wartet. Am Ende bist du deinem Feind vielleicht ganz nah. Du musst ihm in die Augen sehen. Dann bete - ein Stoßgebet - und schlag zu, sagt Remberti an einer entscheidenden Stelle, sagt Fritz.
Sein Gesicht war der Schauplatz einer universalen Kriegsgeschichte, während er davon nur erzählte. Fing er an zu weinen?
Nach einer Pause setzt er seinen Kampf fort. »Unverdient kannst du dir den Himmel verdienen, du sündiges Stück Mensch!«, schreibt Remberti. Und was kam dann? Dann zogen sie weiter. Von Fall zu Fall eine Seuche, ein Geschwür und Blasen. Aber der verstockte Pharao glaubte Gott zu sein und ließ sich mit Gott anreden.
Ein paar dürftige Mumien, die die Gänge des Louvre füllen, beweisen, dass der Pharao für immer tot ist. Nur die Krokodile haben überlebt und beißen wie immer. Damals saß Frau Pharao auf einem kleinen Hocker hinter dem Thron, Frau Gott, unsichtbar, und flüsterte ihrem Gott ein, was er tun solle: die Zähne zeigen. Der verweichlichte Pharao saß indes untätig auf seinem Thron und spielte mit seinen Fingerringen. Er hätte nichts unternommen, wenn er nicht durch das Machtwort der Pharaonessa aufgeschreckt worden wäre. Sofort ließ er sich seinen Stab bringen und eilte von der Thronhalle zum Huldigungsfenster. Doch draußen sah er nichts als ein paar Karawanen, die mit ihren Kamelen vorbeizogen. Dann ließ er sich in die Hofkanzlei tragen. Der diensthabende Oberpriester lag schlafend neben seinem Knaben. Der Pharao erzürnte so, dass er den Schweinepriester auf der Stelle, noch im Bett, köpfen ließ. Den Kleinen ließ er für eine spätere Verwendung beiseiteschaffen.
So landeten wir bei der Liebe. Die Liebe ist alles, sagt Paulus. Aber liegt sie mit einem Lustknaben im Bett? Was ist die Liebe? Eine größere Liebe hat niemand als der, der sein Leben hingibt für seine Schafe und umgekehrt. So, jetzt gehen wir noch in den Garten.
Meine Maul- und Klauenseuche
Da wir schon bei der unausweichlichen Rettung der Welt waren, erinnerte ich mich Rosa zuliebe an ein Unternehmen, an dem ich seiner Größe wegen schließlich auch scheiterte: Es war die Bekehrung Mao Tse-tungs.
Was wäre schwieriger (aber auch großartiger) als die Bekehrung eines Politikers?
An dieser Stelle fing meine Maul- und Klauenseuche wieder an zu brennen, mein fehlendes Muttermal, die Erinnerung aus meinem hohlen Bauch, mein nie gestillter Hunger, die Angst vor dem Licht der Welt, vor dem Tag- und Nachtlicht, vor dem dunklen und hellen Licht.
»Libera me de ore Leonis, rette mich vor dem Maul des Löwen, dem Löwenmaul«, betete ich anstelle von Mao Tse-tung, stellvertretend »libera me«, betete ich. Meine kleinen, durchbeteten Nächte, Rosa!
Sein Schutzengel lag schon ganz unten, war am Ersticken. Seine Seele, eine Flamme, war am Verglimmen, eine verdunkelnde Seele kurz vor dem Ende.
An dieser Stelle setzte mein Rettungswerk ein.
Ich musste mich mit seinem Schutzengel verbünden, ein telepathisches Bündnis, gewiss, aber das einzig mögliche. Schon machten sich Mächte und Gewalten über die Schutzengel wie über die Anwesenheit einer wirkungslosen Schutzmacht lustig. Das schwarze Element hatte es beinahe geschafft und hatte alles Lichthafte aus Maos Seele hinausgedrängt. »So wenigstens dachte ich damals«, sagte ich, und alles, was ich sagte, sagte ich, um nicht sagen zu müssen, wie es um mich stand.
Von dramatischen Erzählungen einer Klosterschwester angestachelt, die Welt zu retten, von ihr angetrieben, die Welt, die doch verloren war - diese Welt -, aber die Redemptoristennonne verlangte dennoch eine Bekehrung von ihr.
Eine ganz vertrottelte Erscheinung. Sie war meine erste Muse. Diese siebzigjährige Nonne war damals meine Erzieherin und geistige Führerin. Sie war vertrottelt, gewiss, aber ich glaubte ja an die Macht der Einfalt. Der Satz von der geistigen Armut hatte sich dermaßen in mich hineingefressen, dass ich ihn schließlich auf meine Nonne übertrug. Je einfältiger sie daherredete, desto mehr glaubte ich ihr. Je dümmer sie in die Welt blickte, desto weiser und weltklüger wurde sie von mir angesehen und erachtet. Diese Person hatte Macht über mich. Sie kannte nichts von der Welt, aber sie kannte mich und stiftete mich zu einer Rettungstat an. Auf Mao kam ich selbst, ich entfaltete ihr meinen Plan, und sie gab mir auch gleich ihren Segen.
Ich hatte sein Bild gesehen, die olivgrüne Mütze, den roten Stern, das satanische Gegenzeichen meines heiligen Kreuzes. Ich hatte gesehen, wie er mit der Mao-Bibel vom Platz des Himmlischen Friedens herunterwinkte und lästerte. Die erste Stufe meines Heilsplans war die Beschaffung der Mao-Bibel. Lesen konnte ich schon, aber in einer Buchhandlung war ich nie gewesen.
Das Unternehmen musste geheim sein und bleiben, eine versteckte Aktion nach allen Seiten hin. Ich konnte nicht einfach nach Meßkirch fahren, wo es in einem Geschäft neben Eiskrem und Zeitungen auch Bücher zu kaufen gab. Mit dem Schienenbus erreichte ich die Universitätsstadt Konstanz, am Lago di Cotanza, sagte ich, unerkannt und unbeobachtet, um die Mao-Bibel zu kaufen.
Und dann sollte ich Rosa Universitätsstadt erklären! »Studieren, Bücher lesen, viel Sex ...« Mit dem Schienenbus, meinem Pferd, verstehst du.
Währenddessen betete ich den Rosenkranz. Mein Heilsprogramm war ja von einem ausgeklügelten, von der Nonne abgesegneten Gebets- und Fastenzyklus begleitet, ich verschwieg Rosa die heute auch mir unverständlichen Einzelheiten, die wenig später noch überboten wurden durch meine Zeit in Rom.
Im Schienenbus betete ich jedenfalls den Rosenkranz. Die bösen Elemente mussten unten gehalten werden, dazu gab es den Rosenkranz, der mich auf dieser nach dem Prinzip der Wallfahrt organisierten Reise nach Konstanz begleitete.
Nicht erst von meiner Nonne und anderen geistlichen Leithammeln angestachelt, war ich früh, wahrscheinlich vor dem ersten Erscheinen meiner Erinnerung, in diese Via Regia des Gebets eingewiesen worden. Ich betete abwechselnd den Freudenreichen, den Glorreichen und den Schmerzensreichen, der als König der Rosenkränze gilt. Einen Rosenkranz, still vor mich hin geleiert, schaffte ich in fünfzehn Minuten. Es war nicht verboten, dabei zum Fenster hinauszuschauen, der Rosenkranz war auch so gültig, nach katholischem Weltbild.
Man sagt doch beim Baby »füttern« wie bei Tieren?, warf Rosa ein. »Fittern« sagte sie, das war der Akzent ihres Vaters.
Ich besann mich auf füttern. Erinnerte mich an keine einzige meiner Fütterungen. Ich muss doch gefüttert worden sein, gewaschen, gewickelt - nicht die Spur einer Erinnerung. Warum habe ich mein Leben vergessen? Füttern, das Kind füttern, gefüttert werden mit Kreuzzeichen, ersten Kindergebeten, Weihwasser. Windeln wechseln, Erbsünden abwaschen, taufen. Füttern, das Kind füttern, die Schweine.
Der gültig gebetete Schmerzhafte Rosenkranz war eine Sache von fünfzehn Minuten, die arme Seelen aus dem Fegefeuer zog, an diesem Gebetsseil herauszog, so dick wie das Seil, an dem ich hing, dem Glockenseil. Die Kirchenglocken hatten Macht über mich, zogen mich vom Boden weg in die Höhe, zogen mich vom Boden unter den Füßen weg. Das alles ist nur eine Erinnerung, Rosa, an eine Zeit, da die Erinnerung noch eine Zukunft hatte.
Bei Gloria Patri verneigte ich mich tief, kniete auf dem Schienenbusgang, gleichgültig, was die Welt an diesem Tag von mir denken mochte, die Welt draußen, die Berufsschüler, die mit ihrem Gelächter in eine andere Richtung fuhren als ich. Ich sah die Welt, wie sie über mich lachte, aber das gehörte zum Heilsplan, der besagte, dass der Gerechte viel leiden muss. War ich nicht gerettet, hatte mich mein Engel nicht aus der Welt, dem Schmutz, dem Meer herausgefischt? Ein Kind sollte die Welt retten. Wer war mehr Kind als ich? Ich hatte mich längst in meinen Glauben hineingefressen, Rosa. In einer Vision sah ich mich schon auf dem Platz des Himmlischen Friedens, Mao mit der Taufkerze neben mir, ich als sein Pate die Taufformel sprechend, ich, fragend: »Widersagst du dem Satan?« Er antwortend: »Ich widersage«, mitten in China, alles auf Chinesisch. Und dann in Rom mein Triumph: Ich hätte vor den Heiligen Vater hinfallen und ihm die Füße küssen dürfen, zum Beweis, dass Gott durch mich Großes getan hatte.
Mit dem Schmerzhaften Rosenkranz ging ich auf die Stadtmitte zu, den Schatten, über den ich springen musste. An schauerlichen Läden vorbei, mit mir nie zu Gesicht gekommenen Nebenräumen und Hinterzimmern, an denen zur Straße hin »Ehehygiene« stand. Ehehygiene, verstehst du? Es war ein unaussprechliches Wort für Rosa.
Es war völlig ungewiss, ob ich die Mao-Bibel bekommen würde. Die nächstbeste Buchhandlung, die ich betrat, hatte sie nicht, das heißt, ich, gefragt, was ich wünschte, konnte nur »Das Konradsblattl« aus mir herausstottern.
»Du bist immer noch derselbe!«, sagte wenig später Tante Luz zu mir, Tante Luz, ich nannte sie auch nach Jahrzehnten noch Tante, sie war nur Flüchtling in unserem Haus und hat mich damals gefüttert: »gefittert« - sagte sie -, ich vergaß es. »Du hast dich überhaupt nicht verändert!« Dann ging ich weiter, das geliebte Konradsblatt bei mir, auf der Zunge Bibelstellen, Vitamine, die mich weitertrugen. »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich« - oder, als ich zu straucheln drohte: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil: vor wem also noch Angst!«, sagte ich trotzig und unhörbar vor mich hin. Denn vor mir lag die Aufgabe, in irgendeinem Regal die Mao-Bibel zu entdecken und zu entwenden, denn ich durfte kein Geld für Satan ausgeben, das war mir durch innere Stimmen aufgetragen worden, aber ich musste einen Einblick in die Gewalt des Bösen gewinnen, Rosa.
Es war also in dem mir befohlenen Erlösungswerk so vorgesehen, dass ich erst einmal die Gesetze dieser Welt durchbrechen musste. Die Mao-Bibel! Da entdeckte ich sie, ihn, Satan, schwarz und rot. Ich schob sie in mein Konradsblatt, »Der Herr ist mein Licht und mein Heil!« vor mich hin flüsternd. Mein Glaube machte alles leicht, »aber du hast dich überhaupt nicht verändert!«, wie Tante Luz sagte. Denn ich färbte mich rot, mein Ich einer früheren Auflage färbte sich rot, rot beim geringsten Wind, fein eingestelltes Ich, mit empfindlichsten Reaktionen auf die Welt. Der Kopf füllte sich mit meinem Blut gegen sie. Mein Glaube, aberwitziger Glaube, machte das Krumme gerade, das Schwere leicht. Ich hatte Sätze gegen die Welt bei mir. Aber mein Glaube, ein Glaube, der Berge versetzte, half nichts. Es war ein Glaube, der Berge nicht versetzte, und »als ich später einmal nach Peking kam« (ich reise viel, gab ich Rosa zu verstehen), »konnte ich das Mausoleum, das meinen wiederholt gescheiterten, dann aufgegebenen Heilsplan enthielt, ihn barg, besichtigen. Mao lag in einem Glassarg. Ich hätte weinen können. Dies alles auf dem Platz des Himmlischen Friedens, einen Tag bevor ich zum ersten Mal die Chinesische Mauer bestieg. Mao lag einbalsamiert, ungefähr so wie die heilige Maria Goretti in ihrem Glassarg, die ich auf meiner ersten Wallfahrt gesehen und die mich an Schneewittchen erinnert hatte, und andere, deutlich sichtbare Heilige, deren Namen ich vergessen habe.«
Sagte ich. Erzählte ich. Denn wieder einmal waren die Pferde mit mir durchgegangen, denn der letzte Teil der Geschichte war komplett erfunden und erdichtet. Ich hatte das alles nur geträumt. Wie hätte ich auch noch nach Peking kommen können!
Gewiss, Rosa hatte noch nie eine Weltkarte gesehen, und dachte, durchaus zu Recht, dass dieses China gar nicht so weit entfernt wäre von uns. Trotzdem, sie hätte Verdacht schöpfen können.
Ich log und erfand immer den Menschen zuliebe.
Während Mao im Glassarg lag, war seine Witwe gerade zur Todesstrafe auf Bewährung verurteilt worden, eine Verurteilungsart, die der grausame Osten noch kennt.
Um ihn zu retten - mein Rettungsversuch forderte von mir, dass ich das Gesetz doppelt durchbrach. Immerhin war ich schon fünfzehn und hätte nach den Gesetzen dieser Welt verurteilt werden können: Diebstahl in einem einfachen Fall (der im Grunde höchst kompliziert war). Und dann noch das Entscheidende: Ich hatte gegen den Heiligen Vater verstoßen und war dabei, die Mao-Bibel zu lesen, ein Werk, das auf dem Index stand.
Die Mao-Bibel war, wie schon der Titel sagte, ein böses Gegenstück, ein satanisches Machwerk, das zu meiner Zeit in eine äußerste Konkurrenz mit meinem Wort Gottes trat. In einen Endkampf. Bedrohliche Zahlen waren mir zu Gesicht gekommen. In der Zeitung hatte gestanden, dass die Mao-Bibel die bis dahin führenden Bücher, die Bibel und Onkel Toms Hütte, bald überrundet haben würde.
Ein Kind musste die Welt retten, das Kind war ich. Warum nicht mit einem Paradox beginnen, das »ich« hieß?
Ich war kein richtiges Kind mehr, wollte aber das Kind, das auch schon ich geheißen und ich gesagt hatte, nicht verlassen. Haare waren es, nichts als Haare, die schließlich mein erstes Leben beendeten.
Aber auch Swjetlana Allelujewa, die Tochter des von meiner geistlichen Führerin und Päpstin als Gegenstück zum papsttreuen Hitler aufgebauten Stalin, hatte sich bekehrt und flüchtete zum Heiligen Vater. So musste sich auch Mao bekehren, und zwar durch mein Beten und Arbeiten.
»Bald werde ich achtzehn sein, aber vielleicht komme ich jetzt schon durch die Schleusen«, dachte und sagte ich nicht.
Ich wollte Flesh sehen. Flesh lief im Kino.
Ich erklärte Rosa den Film nicht, träumte nur ein wenig im Nachhinein davon, vergegenwärtigte kurz die Handlung, die in einem Arsch gipfelte, ja, aus einem einzigen Arsch bestand, den man (und sonst nichts) eine Viertelstunde lang besichtigen konnte. Deswegen die ganze im Film gezeigte Geschichte eines so gut wie Stummen, dessen Arsch sein ganzes Kapital war. Die Bekehrung Maos lag hinter mir. Und immer kam etwas dazwischen, und es sah so aus, als hätte ich den Plot vergessen.
Doch die Geschichte hatte ihr Nachspiel. Der Griff ins Regal verfolgte mich. Die Papiertiger des großen Vorsitzenden ließen mir keine Ruhe. Ich musste wiederholt mein »Fürchte dich nicht!« gegen sie schleudern. Nun hörte ich mein Herz ganz nah bei mir, mein Herz schlug im Kopf, der das Zentrum meines Unglücks barg, den Gedanken, dass ich sterblich bin, über den ich nie hinauskam.
Die Mottenkugeln, deren Besorgung meine Reise in die Universitätsstadt nach außen hin rechtfertigen sollten, gab es nicht. Mottenkugeln konnte ich nicht auftreiben. Es hatte keinen Zweck, Rosa auch noch zu erklären, was es mit Mottenkugeln auf sich hatte. Sie war schon mit Maul- und Klauenseuche überfordert, rein sprachlich.
»Du warst dazu berechtigt!«, flößte mir mein Engel ein. Ich verließ die Buchhandlung mit meinem blutroten Gesicht.
Zu Hause schloss ich mich ein, die Mao-Bibel in mich hineinzufressen.
»Jetzt singt er auch noch!«, hörte ich im Schienenbus auf der Rückreise. Ich hatte das festina! (Gott, eile, mir zu helfen!) vor mich hin prosodiert. Meine oralen Automatismen, meine Grimassen waren Gebete. »Rette mich! Libera me!«, betete ich stellvertretend für Mao Tse-tung.
Hat der einen Sonnenstich?
So wollte ich es unbedingt schaffen und am Ende bewusstlos wie von Marathon her den Sieg melden und sterbend zusammenbrechen.
Ich ertrug alles, wie es mir aufgetragen war, Rosa. Schmerz, mein Schmerz, lebendiger Bruder meiner Erinnerung, die, im Gegensatz zu ihm, niemals ein Leben hatte, immer nur eine Geschichte hatte sie.
Schöne, kugelsichere Weste
Zum Geburtstag bekam er eine schöne, kugelsichere Weste geschenkt, erzählte mir Meier, der Fahrer, auf dem Weg zum Länderspiel. Ja, im selben Jahr war wieder einmal eine Meisterschaft. Er war ein Nachkomme eines jener Auswanderer, die es nicht geschafft hatten, im Tross meiner Urgroßonkel hier für die nächsten hundert Jahre oder mehr gestrandet.
Immerhin hatte er den Führerschein geschafft, wie ich annahm, aber ich weiß nicht, ob ein solcher in dieser Gegend überhaupt nötig war. Fahren konnte er auch so. Nebenher erzählte er mir unentwegt dieses und jenes, auf dem Weg nach Bariloche de los Andes, wo Deutschland und Argentinien aufeinanderstießen. Oder war es umgekehrt? Er erzählte, und der Wagen fuhr eigentlich von selbst?
Der reinste Zufall, dass mein Aufenthalt mit diesem wichtigen Spiel, wie Meier es bezeichnete, zusammenfiel. Unterwegs hoffte ich all jene Tiere zu sehen, von denen ich bisher nur gehört hatte, die schwarzen Schwäne vor allem und die Flamingos in der Lagune von Sarmiento. Dass für Meier alles umsonst war (Fritz bezahlte), beschwingte Meier dermaßen, dass er glaubte, uns dafür auch noch unterhalten zu müssen mit seinen an Haaren herbeigezogenen Sätzen über das Befinden am Ende der Welt, den idiotischen Tod, das vermutete Heimweh der Doctora nach Russland und die Ehe im Allgemeinen.
Meier war im Streit mit der Doctora auf der Seite von Fritz, als Fahrer und Faktotum hätte er auch nicht viel mehr Möglichkeiten gehabt als ein Hund.
Draußen vor der Windschutzscheibe, die durch ein Stahlgitter vor Steinschlag geschützt werden sollte, war es die Windschutzscheibe oder waren es wir?, und so alles in Tausende von kleinsten Schwarzweißquadraten einteilte, als wäre die Welt ein Testbild, muss man sich trotz allem etwas so Schönes und Unbeschreibliches dazudenken, wie es der Mensch, der ich war, nie gesehen hatte, es war wie nirgendwo auf der Welt. Vielleicht hätte der Reisende in einem anderen Jahrhundert auch zu Hause noch etwas Ähnliches gesehen wie diese Anden, vorausgesetzt, er hätte Augen für so etwas gehabt.
Und nichts half, kein Dokumentarfilm, keine Fotostrecke und kein Roadmovie, und keine Erinnerung, um dieses Patagonien wiederzugeben, das war alles nichts gegen die Augen, die ich damals hatte, mit denen ich sehen konnte, was ich sah.
Im Verlauf dieser sechs Stunden in seinem (Doctoras) Falcon, einem in Amerika produzierten und in Europa völlig unbekannten Wagen, der für ihn zweifellos mehr wert war als wir alle zusammen, kamen von Meiers Seite mehrere halbseidene und ganz seidenlose Witze, die wir nicht hören wollten, die jeweils in seinem Glaubensbekenntnis mündeten: Scheiße schwimmt oben.
Wir lachten, gequält. Als wäre es eingeblendet. So wie einer, der lachen muss, dessen natürlicher Lachvorrat schon erschöpft ist, lachte ich.
Unberufen und zufällig wurde ich mit dem Sinn des Universums, meinem Sternzeichen, den Prognosen hinsichtlich des Sommers und mit dem wahrscheinlichen Verlauf und Ende des Fußballspiels und der Welt konfrontiert; sowie mit dem Eindruck, den die letzte Südamerikareise des Papstes auf ihn gemacht hatte.
Auch über das Essen, die Vorzüge der patagonischen Küche allen anderen Küchen gegenüber, die er freilich nur vom Hörensagen her kannte, wusste er Bescheid. Meier bewies nun mit Händen und Mienenspiel, dass speziell die Küche von Pico Grande so reich sei, weil sie die Vorzüge aller europäischen, dazu der amerikanischen und der bodenständigen Indianerküche in sich vereinige. Ein Argument, das ich auch schon aus den Vereinigten Staaten von Amerika in Bezug auf die dortige Küche gehört hatte; und zwar wiederholt. Die Indianerküche ...
Früher sei der Asado allerdings noch um ein paar Brocken Menschenfleisch angereichert, verfeinert worden. Das schmecke heute niemandem mehr, und er erwartete von mir abermals ein kurzes, anerkennendes Auflachen. Ich hatte ganz andere Erfahrungen gemacht, was die Küche von Pico Grande anging. Mag sein, dass sie einmal gut war, die Indianerküche, eine Nomadenküche bei nie ausgehendem Feuer unter offenem Himmel (daher Feuerland), aber das Fleisch wurde doch roh gegessen oder verschlungen. Es gibt davon keinen Film.
Ich fotografierte alles: namentlich die Asados und Grillfeuer, und die diversen Verwandten mit dem Stück Hammel in der Hand mir zu Ehren sind reich dokumentiert. Mich erinnerten diese Fotos von fleischfressenden Schlünden aus Fleisch, das von meinem Fleisch war, an Buddha, den ja schon der Anblick einer schlafenden (wohl auch schnarchenden) Frau dermaßen schreckte, dass er für immer für diese Welt verloren war.
Meine Fotos von den Fleischabenden mir zu Ehren würden die zu Hause gebliebene Verwandtschaft, eine weitverzweigte Familie, meine Ferkelhändlerdynastie, aus der mit Recht schon einige Vegetarier hervorgegangen sind, so sehr schrecken, dass sie alle glücklich wären, nicht ausgewandert zu sein und von diesen Verwandten möglichst weit weg zu wohnen.
Vielleicht hätten auch den einen und die andere die Gesichter selbst geschreckt, die jungen wie die alten, Rosas Gesichtsausdruck beim Wenden des Fleisches von der gegrillten auf die rohe Seite mit der eigenen Hand, wie sie an das Fleisch heranging, ohne sich die Finger zu verbrennen. Dabei hätten sie ja niemals ihre Stimme hören müssen, wie sie »carne« oder »sangre« sagte.
Schon nach drei Wochen in Pico Grande konnte ich mich nicht mehr aufrecht aufs Pferd setzen, mein Pferd, das ich gleich nach dem ersten Ausritt Argentino getauft hatte. Gemüse gab es gar nicht, alle Vitamine fehlten. Man lebte von Fleisch, Blut und Rotwein.
Nun gut, Meier war auch längst bei den Problemen der Überbevölkerung und beim damals bevorstehenden Malvinaskrieg, bei der Jungfrauengeburt und beim Tod auf Verlangen. Künstliche Hüftgelenke wurden in Buenos Aires schon jahrelang eingebaut, und Schönheitsoperationen, dass Europa dagegen alt aussah, wurden durchgeführt, sagte er mir, zur Auflockerung der Nachrichten aus aller Welt. Auch die künstliche Befruchtung, der allergische Schnupfen und die Entdeckung des Ozonlochs waren schon zu Meier vorgedrungen - was eben so gesprochen wird unterwegs.
Der Regen draußen und die Geräusche des Scheibenwischers beanspruchten mich ebenfalls. Man sah zwar so gut wie gar nichts mehr, fast wie auf Blindflug, aber wir fuhren ohne Irritation weiter Richtung Norden. Während seiner Ausführungen saß Meier in einer Haltung am Steuer, die verriet, wie sehr er in Fahrt war, wie sehr ihn alles beflügelte. Die Körperhaltung eines kleinen Mannes, der sich nach oben ausstreckt, in die Regionen seines leicht gepuderten argentinischen Weltbildes.
Zu allem kamen seine schwarz-weißen Lackschuhe, mit denen er die unteren Armaturen in aller Eleganz bediente. Auch sein Spanisch kam mir sehr gewählt vor. Jedenfalls ließ er Worte fallen, die ich vor Ort nie gehört hatte. Vielleicht sprach er etwas gekünstelt, mag sein. Er fühlte sich, glaube ich, mir gegenüber nicht nur als Repräsentant Argentiniens, sondern auch des männlichen Geschlechts. Er war außerdem ein begeisterter Anhänger seiner Mannschaft (vergaß welche), vom Fußball an sich, von gutem Essen, der Frauen und vom Wein, des Freiheitsgedankens der westlichen Welt und der Todesstrafe.
Saß ein Betrunkener am Steuer?
Und dann: Die Kapelle hatte sich zum Abspielen der Nationalhymnen mitten auf den Platz gestellt.
Fritz nestelte ungeduldig in seiner Hosentasche. Da - die Hymne. Und wie! Schon die Flagge war verkehrt herum aufgezogen.
Nachdem das Spiel angepfiffen war, die Köpfe dem einen Ball folgten, ergab sich bald eine richtige Schlacht, mit »Schuss!« und »Volltreffer!«. Sie schienen ihr Leben einzusetzen, alles aus sich herauszuholen.
Dieses Spiel hatte Südamerika mehr Tote gekostet als alle Kriege des Jahrhunderts zusammengezählt. Das Geschrei der Schlachtenbummler vermischte sich mit dem Schweiß auf den Rängen und den Urlauten der Kämpfer auf dem Feld der Fußballschlacht. Gelegentlich zogen sie aneinander vorbei und spuckten sich ins Gesicht.
Die stärkere Seite gewinnt. -
Mein alter Urgroßvater, ein entschiedener Verfechter der stärkeren Seite, hatte mir noch diesen Satz aufschwatzen wollen, ohne Erfolg. Also - ich fasse zusammen - wurde die Siegerhymne gespielt.
Die deutsche Hymne, sie hätte auch als Kammermusik präsentiert werden können, aber »die Italiener«, wie Fritz für ganz Argentinien sagte, bliesen sie mitten im Stadion in ihren grellen Uniformen wie eine Improvisation von Alle meine Entchen herunter.
Unsere Sieger sahen ganz so aus, als ob sie eine Schlacht gewonnen hätten, noch mehr die Schlachtenbummler, die damals noch so hießen. Ihr Anhang grölte auf den Rängen und drohte den Verlierern, allen, die in diese Niederlage verwickelt waren, mit dem Tod. Sie machten Anstalten, alle auf der Stelle zu vernichten. Siegerrituale, der Fuß im Nacken, die Gesten der Unterwerfung wurden schon angedeutet. Es fehlte auch hier nur ein Haar, aber der einsetzende Regen verhinderte das Ende des Spiels: die Ausrottung aller Feinde.
Es gab zum Glück keine Toten. Aber der Platz sah nachher doch wie ein Schlachtfeld aus.
Die Trostlosigkeit einer Siegesfeier.
Der Wind hat den Augenblick des Sieges davongetragen. Der Regen hat ihn zugeregnet. Die Sieger müssen vor Freude schreien. Sie haben gesiegt. Sie haben in der Arena nichts mehr verloren.
Sie können jetzt nur noch So ein Tag, so wunderschön wie heute singen. In ihrer Verzweiflung beginnen sie, So ein Tag, so wunderschön wie heute zu singen und zu schunkeln. An der Stelle des Sieges das leere Spielfeld.
Und du?
Sie besaufen sich, können sich besaufen, und dann kommen ihre Frauen, ziehen sie von Mann und Biertisch weg, und das Leben muss weitergehen. Schon auf dem Fußballfeld, schon nach dem Siegestor war dem strahlenden Helden nichts anderes eingefallen, als sich auf den Boden zu werfen.
Als sich auf den Boden zu werfen, dahin, wo die anderen schon lagen, sich übereinanderzuwerfen aus Freude und liegen zu bleiben und dann wieder aufzustehen.
Und du?
Auch auf der Straße setzte sich das verzweifelte Gegröle von So ein Tag! fort. So ein Tag! -
So ein Tag. Sonst nichts, in alle Ewigkeit. Auch Fritz summte mit. Und ich, der alles mit angesehen hatte, summte schütter dagegen.
In den Händen bald ein Gefühl, kein Gefühl mehr zu haben
Da fiel auch schon wieder ein Regen. Er hielt mich im Zimmer fest. Er verhinderte, dass ich überhaupt vor die Tür kam. Es regnete mich ein, mich an, mit diesem Tag war nichts mehr zu machen. Rosa lag neben mir. Kein Zauberer war da, der sie von mir weggezaubert hätte. Denn ich wollte mit einem Mal allein sein, ich hatte einen Patagonienkoller bekommen von diesen vielen Bildern und Geschichten, arme Rosa. Es lag an mir. Sie konnte nichts dafür.
An ihrer Stelle hätte ich mich in den Regen hinausgeschickt, aber dieser Regen fiel wie flüssige Scheiße vom Himmel herunter. Meinen ärgsten Feind hätte ich nicht in diesen Regen hinausgeschickt.
Verstehst du? Ich konnte meine Hand nicht heben, so schwer war mir alles. Im Taschentuch Klexogramme aus Schweiß und Sperma, Schweiß, der bald zerfließt, vertrocknendes Sperma. Ihre Oboen-da-caccia-Stimme zuzeiten, die Erinnerung an erste Orgasmen gar nicht lange her, und jetzt diese Ebenerdigkeit. Noch auf dem Boden.
Wenig später waren wir schon wieder auf den Beinen und aufrecht im Leben. Das Essen ging weiter, musste zubereitet werden. Ein Stück Hammel hing bratfertig an seinem Haken.
Das Gewöhnliche musste es sein, an das wir uns halten konnten, alles, was das Leben einfach und sicher machte, nur keine Ausnahmen!
Wir klammerten uns an das Leben an seinen gewöhnlichsten Stellen. Der Hammel, wenn er knusprig gemacht ist. Der eine sagte, was alles dazugehört, die andere, wie man es macht. Die Nacherzählung bis zu der Stelle, wo er auf den Tisch gestellt wurde, füllte das Leben und gab ihm Sinn.
Schon nach einer Woche war es fast schon zu Ende. Denn ihr Mann und Liebhaber war von seiner Lastwagentour für drei Tage zurückgekehrt.
Und alles, was bisher gewesen war, hatte in einer Woche und fünfzig Seiten Platz gehabt oder überhaupt nicht.
Ich schlich um ihr Holzhaus herum wie ein Stalker, der noch nicht zur Einhaltung der Sperrmeile, »nicht näher als tausend Meter«, gerichtlich verurteilt ist.
Es war für patagonische Verhältnisse fast heiß, und ich stand mit freiem Oberkörper an ihrer Tür: das bin ich. Schau her! Ich war an jener Stelle vis-á-vis im Gebüsch von Fritz, an der Stelle, wo sie mich sehen konnte, auf einmal Exibitionist und Voyeur. Ich sah, wie sie mich sah.
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und schlug das Fenster zu. Was willst du?
Auf dem Diwan lag er und schlief den Rausch aus.
Ich war keine Führernatur. Ich konnte diese Menschen nicht an mich reißen und nicht an mich binden.
Und was war mit ihr? Ich musste schon auf ihr liegen, doch selbst da war sie bald ganz weit weg.
Drinnen schon wieder ein Gelächter zwischen bellendem Hund und betrunkener Frau.
Ich wartete nur darauf, dass eine Tür zugeschlagen würde, nur auf ein Lebenszeichen.
Ich hing an ihr. Mit dem Recht des kopflos Verliebten blieb ich stehen.
An den sonderbarsten Stellen schlug mein Herz: hinter den Ohren, in den Nasenflügeln.
Das ist alles nur eine Erinnerung.
Die Liebe war ein Glaube, der Berge nicht versetzte.
Ich atmete, ich lebte.
Es wäre nun nicht mehr weitergegangen, wenn es so weitergegangen wäre
Dachte ich. Es muss Whisky her, das wäre doch gelacht, auf meinem Weg nach Mandelay! Am anderen Morgen fuhr ich mit Mario zu Frau Madefsky.
Ich entdeckte sie, ihr kleines Backsteinhaus, das sie zusammen mit ihrem Mann am Ortseingang des sechzig Kilometer entfernten Nachbarortes Gobernador Costa gebaut hatte, als wären sie hier zu Hause.
Da ist es! Und Mario nahm die eine Hand vom Lenkrad und zeigte auf das Haus. Noch ein Ausflug.
Dieses Mal fuhr ich mit Mario, denn Rosas Liebhaber war immer noch da, auch wäre sie gar nicht zu Frau Madefsky gefahren, die noch weniger Spanisch konnte als ich, das wusste ich, der jede Gelegenheit wahrnahm, etwas zu sehen, was zu Fuß oder zu Pferde nicht möglich war, von ihr.
Ich wusste nicht, ob sie ein gewöhnlicher Flüchtling oder eine Vertriebene war. Dabei glaubte sie, zu den Auswanderern zu gehören, denn irgendeine Heimat musste der Mensch haben, und wäre es jener Küchentisch mit der Plastikdecke drauf, und der Eckbank, von der aus ich lesen konnte, was sie sich selbst ausgesucht oder geschenkt bekommen hatte. »Seitdem ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere«, las ich, eingerahmt in ein Arrangement aus Rosen, ja, der Rahmen war ein Kranz geflochtener Plastikrosen, und eine Kuckucksuhr entdeckte ich auch noch, noch so ein Geschenk, das sie an die schwarzen Wälder erinnern konnte, an den Schwarzwald, dabei kam sie aus Ostpreußen, »Zur steten Erinnerung!«. Ein Geweih, allerdings nur ein Zwei-Ender, ging vom Neun- und Drei-Uhr-Zeichen im rechten Winkel ab, und dann noch eines vom Zwölfer und Sechser, und bildete so ein Kreuz, doch den Glauben hatte sie ziemlich verloren, kein Wunder.
Es war alles ganz wie zu Hause, und bald saß ich am Küchentisch, als gehörte ich dazu.
Während Mario seine kleinen Besorgungen machte, sollte ich mit Frau Madefsky etwas plaudern, das Neueste von zu Hause erzählen, meinten die Verwandten.
Da war noch jemand, der Deutsch sprach und sich über mich freuen würde, aus dem einen Grund, dass ich von zu Hause kam. Ich war gar nichts und niemand, aber auch Frau Madefsky begann zu weinen, kaum dass ich »Guten Tag!« gesagt hatte.
Warum war sie weggefahren? Sie begrüßte mich überschwänglich, mit ihren Tränen, mit ihrem rollenden R und ihrem Glanz in den Augen.
Ich war nun schon mehrfach auf diese Weise von Menschen, denen ich wildfremd war oder hätte gewesen sein müssen, begrüßt worden. Sie umarmte mich, was, wäre sie zu Hause gewesen, nie geschehen wäre. Da saßen wir auch schon in der Küche, und nach dieser ersten Aufwallung gab es einen Kaffee, und es war ganz so, als ob es sich bei ihr um einen Menschen handelte, der zurückgekehrt ist. So erzählte sie mitten aus ihrem Leben, das hieß bei der alten Frau: aus ihrer Vergangenheit.
Sie hätte auch zu Hause bleiben können, dachte ich, warum so schweifend? Aber dann strafte mich meine Erinnerung mit dem Gedanken, dass Frau Madefsky jetzt ohnehin nicht mehr in ihrem Häuschen in der Nähe von Elbing säße, ob mit oder ohne Auswanderung.
Heute wäre sie eine gewöhnliche Vertriebene, heute säße sie vielleicht in der Gegend von Nürnberg, so wie ihre Schwester, oder wäre einfach tot. Ihr Haus wäre angezündet worden und abgebrannt. Sie hätte nur das Wichtigste in einen Koffer stecken können, mitten im Winter, übers Eis, so wie ihre Schwester. Die Fluchtgeschichten unterschieden sich nur geringfügig.
Nur im Detail, dachte ich.
Die Schefskys! Sie wollten nicht mit, blieben einfach in ihrem Haus. Sie hatten gedacht, dass es nur halb so schlimm kommen werde, und wollten abwarten. Aber dann ging es zu Fuß Richtung Sibirien. Wie weit sie kamen, weiß ich nicht. Die ganze Familie, meine Schwester und ihre sieben Kinder, zu Fuß, alle blond. - Kein Zeichen mehr. Zu Hause noch vergewaltigt, selbst die Großmutter noch - und dann getötet, wie von Großwildjägern.
Frau Madefsky wollte mich nicht zu sehr in ihre Geschichte hineinziehen, so fing sie von ihren zwei Enkeln an, wie sie vor ihren Augen groß wurden und immer noch wuchsen. Von ihren Töchtern im besten Alter. Blonde Sehenswürdigkeiten, die sich vom weltweiten Schwarz abhoben. Ich bekam sie nicht zu Gesicht, aber ich ließ mir sagen, dass die eine das Kolonialwarengeschäft führte und die andere mit einem Lastwagenfahrer verheiratet war (das hieß hier meist: zusammenlebte), der bis nach Santa Cruz und Feuerland hinunterkam, in den argentinischen Teil der Insel.
Ich müsse sie unbedingt kennenlernen, beide, ich solle wiederkommen. Sie würden für mich kochen. Traute sowieso, aber auch die Jüngere, Erika. Das glaubte ich gern, und ich bedankte mich. Ich hatte das Gefühl, dass ihr auch die Töchter etwas entglitten waren. Sie standen auf eigenen Beinen, kamen nur noch zu Besuch. Kamen zur Tür herein, wohl ohne große Anmeldung, aber nur noch gelegentlich.
Frau Madefsky machte alles noch selbst: aufstehen, waschen, kochen, zu Bett gehen und was zu einem Leben gehört, und kannte die Welt aus der Bunten. Von drüben bekam sie mit einiger Verspätung die Illustrierten zugeschickt, die Bunte, die unter den Auswanderern eindeutig bevorzugt wurde und sie mit dem schönen Leben in Deutschland verband. Sie führte mich durch ihr Haus. Ich müsse noch das Haus sehen. An den Wänden des Wohnzimmers und des Schlafzimmers die unvermeidlichen Bilder und Fotografien. Aus der Zeit von Es dunkelt schon in der Heide ein Foto ihres verlorenen Hauses auf dem Nachttischchen. Und das Bild ihres Mannes. Ich sah, dass er sie wahrscheinlich auch in Ostpreußen betrogen hätte. Was zwischen ihnen war, setzte sich auch hier fort. Jetzt war er lange tot. Es gab keinen Streit mehr. Sein Bild hatte einen Ehrenplatz. »Der gute Fritz!«, sagte sie. Er hatte sie einfach mitgenommen. Sie wollte nicht weg, aber was blieb ihr anderes übrig, als ihm zu folgen! -
Hier war er mit abgezogenen Fellen, mit Strohballen, Wein, mit allem, was die Jahreszeiten boten, herumgefahren, ein Landhandel. Er konnte auch bald die Umgangssprache, während sie damit gar nicht angefangen hatte und in fünfzig Jahren nicht über »Buenos dias« und »Gracias« hinausgekommen war. Über den Handel mit den Landprodukten kam er zu seinen Frauen. In jeder Hotel genannten Absteige am Weg konnte er eine haben, dachte ich.
Nach Pico Grande war sie früher zweimal im Jahr gekommen. Zur Kirschernte bald nach Weihnachten. Und dann sonst noch einmal, wenn Fritz dort etwas zu tun hatte. Aber jetzt hatte sie niemanden mehr, der mit ihr hinüberfuhr. Gelegentlich kam der aus Königsberg stammende und nun in Pico Grande immer noch lebende Fritz (»Kennen Sie Fritz?«) herüber. Er ließ sich gegen ein Trinkgeld von Meier fahren. Dann plauderte man etwas Deutsch, so wie heute, mit einigen ostpreußischen Brocken dazwischen. Und wenn Meier mit seinen Besorgungen fertig war, klingelte er auch schon.
Meiers Mutter war eine Kreuzung von einem Solothurner Gebirgstäler mit einer Araukanerin. Das klang nach Vieh- oder Hundezucht, war aber ein - vielleicht noch größerer - Zufall. (Wie hätte diese Kreuzung als Viehsorte geheißen? Jura-Araukan vielleicht?) Es war leicht, auch er machte es mir leicht, eine Geschichte dazuzudenken.
Frau Madefsky war eine schöne Frau gewesen, gewiss. Die Welt war voll von schön gewesenen Frauen.
Spuren zeugten davon bei Frau Madefsky. Ich konnte das erschließen, die Falten wegdenken, alle Veränderungen rückgängig machen. Dann blieb nur ein Lächeln. Ihre Töchter, sagte sie, sprachen noch den ganzen Tag deutsch und waren so blond wie immer. Aber die Enkel! Das wurde von einem Blauschwarz durchkreuzt. Sie hatten sich auf die einheimische Seite geschlagen. Die alte Frau erkannte ihre Enkel, die sie liebte, nicht wieder. Elbing war umgetauft worden, hieß Elblag, ein kleiner, unverzeihlicher Unterschied. Bald werden die Enkel so groß sein, um in der argentinischen Armee zu dienen. Ihr Vater wurde noch durch preußische Kartoffelfelder gejagt. Kartoffelfelder gab es hier nicht. Für wen beschrieb sie ihre untergegangene Welt?
Hinter dem Haus war die berühmte Tankstelle für die Camiones, die einzige zwischen hier und dort, ein Hotel für Arbeiter, zu den Ölfeldern in der Provinz Santa Cruz unterwegs.
All ihre Sätze fingen mit »Ich weiß noch« an; und kein Tag verging ohne Erinnerung, eine Medizin, die zum Tode führt.
Meine Zeit bei Frau Madefsky war um. Mein Fahrer kam, um mich nach Pico Grande zurückzubringen. Er riss mich heraus, noch ein Loch, nur ein kleines unter dem Dach des Backsteinhauses. »Grüßen Sie Don Fritz und die anderen, alle grriessen!« Mit dem festen Versprechen, wiederzukehren, ging ich.
Ihre Enkel waren ihr über den Kopf gewachsen (sah ich auf dem Foto) und hatten ganz andere Kopfschmerzen.
So verlief die Geschichte. Negro verlor schon seine Milchzähne, und das tat weh.
Er spielt noch immer mit dem Bären. Später wird er Lastwagenfahrer oder Architekt. Wahrscheinlich Lastwagenfahrer.
Ich brenne, hätte sie gesagt, hätte sie einer gefragt, wie es ihr gehe
Wieder einmal an allem vorbei, was immer war und nie, zwischen Himmel und Erde oder Hölle - und dies noch träumend, waren wir auch von diesem Ausflug zurück, als hätte mein Leben aus Ausflügen bestanden.
Im Chevrolet saß man ziemlich oben und zu dritt. Und hinten, auf dem Pick-up, dieses und jenes, und Menschen im Freien, die sich nicht erkälteten.
Nun waren wir wieder in Pico Grande, und ich sagte auch bald »wir« und »da«, als wäre es zu Hause.
Elena, Rosas Mutter, kam, was in Pico Grande das Selbstverständlichste war auf der Welt, gerade um die Ecke geritten. Ihre Erscheinung erinnerte mich an schön verblühenden Flieder. Es gab sie noch zum Beweis, dass es sie gegeben hatte. Zwar saß sie zu Pferde, ließ sich wie immer aus dem Sattel gleiten, küsste mich pflichtschuldig als von weit her angereist und verwandt, und so steht sie vor mir.
Damals war sie, so sagt man, in Brand gesteckt worden von ihm. Jetzt lag einer neben ihr im Bett, der schnarchte und seine Füße nicht gewaschen hatte und sich nur mit seinen graubraunen Socken schlafen legte, sonst war er haarig und nackt. Das war noch so einer.
Er hatte sie überfallen und ließ sie liegen. Seit fünfzehn Jahren ließ er sie liegen. Geschnarcht hat er von Anfang an, aber die Zähne fielen erst im Lauf der Jahre aus. Jetzt lag sie wach. Jetzt brachte er kleine Tierchen von seinen Besuchen in der Stadt mit ins Bett. Sie stachen zusätzlich. Es gab vor Ort kein Heilmittel gegen diese Liebe. Diese Tierchen füllten sich mit ihrem Blut. Das sah sie mit bloßem Auge. Doch sonst hatte sie nichts von ihm.
Sie fuhr über seine haarige Brust. Jetzt war das Loch doch alles. Es fehlte etwas, mittendrin fehlte etwas. Das, was fehlte, war ganz in der Mitte. Das Loch war leerer, als die Nacht schwarz war.
»Nach innen ist mein Aug jetzt nur noch wach
Für alle Dinge die von außen sind versagt es
halb den Dienst halb ist es schwach
nur scheinbar sieht's
tatsächlich ist es blind
erfüllt von dir nur und von nichts
begnügt«
Jetzt lag sie offen. Er fern neben ihr. Von der Pampa kam: der Nachtwind. Nur die Toten schliefen, sie aber musste wach liegen. Es roch nach gelber Scheiße. Schon bald, nachdem sie zu ihm gelegt worden war, roch es nach gelber Scheiße. Seine Lebenszeichen vermischten sich mit den Laken. Ihr geliebter Mensch machte ins selbe Bett, in dem sie lag. Diese Wahrheit war mit der Zeit zur einzigen, zur unumstößlichen Grundlage ihrer gemeinsamen Existenz geworden, zu einer Art Mittelpunkt ihrer Beziehungen. Nur wenn er sehr betrunken war, schlug und vergewaltigte und liebte er sie. Die paar Ohrfeigen nahm sie in Kauf.
Die kleinen Tiere sind überall. Der Schmerz beginnt schon lange, bevor er sichtbar wird. Das Blut schimmert schwarz hinter der dünnen Haut dieser Untierchen. Der Schmerz ist farblos.
Hinter dem Pueblo die kleine Lagune mit den rosaroten Flamingos, deren Fleisch nicht schmeckt, bitteres Flamingofleisch, klares, kaltes Wasser.
Der zerzauste Himmel schön anzusehen, aber zu weit weg.
Am Morgen sitzt er auf seiner Kartoffelkiste und schlürft Mate, nachmittags will er seinen Kaffee, abends seine Ruhe.
Ihr Leben drehte sich vor Schmerz im Kreis. Er, der eine, hielt sie, die andere, am Leben.
Ich brenne, hätte sie gesagt, hätte sie einer gefragt, wie es ihr gehe.
Schrecklich, dachte ich, ein Wort aus der Alltagssprache, das seit hundert Jahren nicht aus der Mode gekommen war
Auch wenn ein offizieller Besuch kam, war es ganz wie zu Hause. Reiste der Provinzkommandant an, stellten sich die wichtigsten Männer von Pico Grande an der Plaza Mayor auf und hatten eine dicke blau-weiße Schärpe um den Bauch gebunden. Die Schulkinder sangen die Nationalhymne wie jeden Morgen, nur vielleicht etwas frischer, und steckten tief in ihren Uniformen, weiß-blaue Ebenbilder waren sie. Der Polizeichef überreichte der Frau des Provinzkommandanten, die mich an Jovanca Broz-Tito erinnerte, ein Gebinde rot-weißer Nelken und verhaspelte sich bei der Übergabe, ganz wie zu Hause. Auch das Gelächter. Keiner weiß, woher die schönen Blumen kommen.
Im Holzhaus war es schön warm
Fritz lag auf seinem Diwan. Man ließ ihm seine Knaben, die Fotos und die Hefte. Sie wurden ihm sogar ins Haus geschickt, zu fragen, was er nötig habe, Vorwände waren es nur. Dann zeigte er auf den Zettel auf dem Esstisch. Der Junge las vor sich hin, leicht über den Tisch gebeugt, viereckig, grobschlächtig, ein Gesicht wie ein Leuchtfeuer, so ungeschickt wie reizend. Seine Augen arbeiteten. Geh zum Schrank, nimm dir einen Schein, nein, da, im obersten Fach. Der Junge war verlegen, aber das Geld nahm er doch. Magst du dich nicht setzen? Nicht in allen Holzhäusern war es so gemütlich. Da hingen Felle an der Wand von überallher, auch einheimische Felle, Vizcaja, klein, wenig bekannt und böse, zu einer Felllandschaft zusammengenäht aus Hunderten, ein Jaguar in Katzengröße, aber auch ein richtiger Puma, die Umrisse des Kopfes hingen von der Wand herunter, während das Fell selbst fest an die Wand genagelt war. Ein schönes Tier.
Eine Zeit lang lebte er deswegen ja im Provinzgefängnis. Ein einziges Mal fiel ein Stein durchs Fenster und traf ihn. Damals war es ein kleiner Wanderarbeiter, der hinüberrannte ins Hospital Rural, und Mario und Meier hievten den schweren Körper auf eine Bahre, während der Kleine zu erklären versuchte, wie alles gekommen war. Ein kleiner Wanderarbeiter, sie tranken zusammen einen Brandy. Im Sommer half er im Hochwald, im Herbst half er in Mendoza bei der Weinernte, ein Wanderarbeiter auf dem Diwan mit Fritz.
Über dem Diwan die Ostseelandschaft, von der Schwester mit der Post geschickt, mit dem Schiff und seither hier an der Wand, ein unerkannter Stellvertreter von zu Hause.
Nun ja, ein kleiner Selbstmordversuch. In christlichen Zeiten tödlich, da nahm der Henker das Hackbeil, das der Priester zuvor gesegnet hatte, und schlug dem Verbrecher den Kopf ab. Jetzt glich die Geschichte nur noch der Beschreibung der Nähe des Geliebten, der tot neben ihm auf dem Boden lag. Seinem Leben, die mitgeschleppten Selbstmordversuche mitgerechnet, die überstürzte Flucht per Schiff, die Stelle im Garten, wo er aufgeschlagen war und beide Beine gebrochen hatte. Neben der Erinnerung an die Bezahlung von Lebensrettung und Krankenhaus hatte er nur die Erinnerung zweier lange hinkender Beine, zusätzlich zu den anderen, schon vor dem Selbstmordversuch bestehenden Beschwerden des Lebens.
Warum war er hierhergefahren? Das konnte ich mir immer weniger vorstellen. Und Onkel?
Vielleicht wollte er möglichst weit weg von allem, und es war ein Skandal, der ihn forttrieb, von dem zu Hause so wenig gesprochen wurde, der so sehr oder so lange totgeschwiegen wurde, bis keiner mehr davon wusste.
Jetzt muss ich mir alles durch den Kopf gehen lassen, das Bild, die Horizonte, Winterreisen, den weiten Weg, die optischen Täuschungen. Die vom Himmel begrenzten Landstriche, das Herauswachsen aus den gierigen Zeiten, aus Hunger und Durst. Der Abriss der Anden. Die Lust flackerte noch in vertrottelten und beinahe zahm gewordenen Leibern. Sie schlich sich erinnerungsweise über die sieben Berge zurück. Dreizentnerschwere Dein-ist-mein-ganzes-Herz-Sänger kamen nicht mehr. Aber sonst kamen alle. Und dann wird eine nackte Frau in die Mitte von Pico Grande gestellt - es kann auch ein Mann sein - und zum Mittelpunkt des Universums erklärt. Zwei Beine, und schon kippt der Mensch um.
Nachmittags kam das Postauto aus Cobernador Costa angefahren. Es brachte keine Post
Also legte sie sich ins Krankenbett und wartete, bis sie an der Reihe war. Es war so gekommen: Da konnte man ihren dicken Rauch sehen. Dagegen gab es nur eine lange Nadel, einen Widerhaken und eine Schüssel, die alles auffing.
Die Kirche hat Fiebermesser geschickt. Doch in ihrer Hütte, einer Verbindung aus Wellblech, Himmel und Rost, gab es nachts kein Licht. Ihre Tage aufschreiben? Schreiben war für sie so viel wie Malen. Hätte ihr irgendjemand gezeigt, wie das geht mit dem Fiebermessen, auch nur eine einzige Nonne, die ihr das gezeigt hätte. - Jetzt ist der Fiebermesser ein Spielzeug für die Kinder.
Jetzt sticht man ihr in den Bauch wie immer schon. Die Kirche? - Die Kirche, das ist für sie der Lastwagen, der alte Bettdecken und gebrauchte Kleider aus Europa bringt, ein ganz alter Camion aus Richtung Comodoro Rivadavia. Sie ist nur eine Indianerin. Sich taufen lassen für eine alte Bettdecke und den Himmel, das Himmelreich?
Wieder ein Loch mehr auf der Welt, sagt man in Pico Grande, wenn ein Mädchen geboren wird. Auch sie möchte nicht noch einmal geboren werden und leben, um immer wieder den Bauch gefüllt zu bekommen mit Schmerz und Leben. Sie weiß nicht, wie lange es schon in ihr gegen die Bauchwand ausschlägt, ohne dass sie etwas dazu tut, so selbständig wie ein knurrender Magen.
Nebenher läuft das Transistorradio. Es ist viel schlimmer, als sie dachte. Sie kann sich an einen ähnlichen Stich nicht erinnern.
Es ist wie eine Geburt, aber nachher bleibt das Leben aus. Die Hilfsschwester trägt den Kübel zum Abfall. Sie kann noch etwas liegen bleiben. Ob es schlimm war, fragt man sie. Sie bekommt eine Tasse Tee, falls sie will. Auch etwas Kopfweh hat sie noch. Dieser blaugefärbte Rest, dazu konnte man nicht Mensch sagen, konnte man dazu Mensch sagen? Die Höhle war eine Steinhöhle. Und drinnen lagen überall nur Knochen herum.
Das Krankenhausschwein sah, wie Concetta mit dem Kübel kam und ihn ausschüttete und wieder verschwand.
Ich rauchte gerade meine erste Veni-Creator-Spiritus-Zigarette
Es war morgens, in aller Frühe, saß am Küchenfenster, schaute nach Patagonien hinaus, diesseits und jenseits der Grenze. Drüben lag Chile. Ich schaute zum Fenster hinaus und stieß nun wieder auf jenen Unfall auf dem Weg, auf einem meiner Wege auf dem Weg zum Flughafen.
Ich, der Erste der Entronnenen, stand nun wieder mit den Toten vor mir, mit diesen Zufallstoten ganz allein. Eine blutrote Landschaft, in die mich meine Erinnerung tauchte. Allein neben meinem Beifahrer stand ich neben dem Toten ohne Totenschädel und bei den Schreien, die aus den Wracks drangen. Wir rissen an der Tür mit aller unserer Gewalt. Bald befreiten wir ein schreiendes Kind, zogen es durch diese Tür zurück ins Leben, während in nächster Nähe zwei Stumme saßen: Beiden hatte es die Sprache verschlagen, der einen mit, dem anderen ohne Kopf, den man bald im Straßengraben fand. Ein Familienausflug, hörte ich.
So etwas hat man schon tausendmal sehen müssen, sagte der zu spät eingetroffene Samariter vom Rettungsdienst. Ich rauchte meine Zigarette und ließ mir sagen, dass der Fahrer gewichst habe.
Der Schuldige war ein Lastwagenfahrer, der vom Weg abgekommen war, auf die Gegenfahrbahn, unsere, geraten, weil er aus Langeweile zwischen Ärschen und Titten hin und her blätterte, wie es unter Lastwagenfahrern auf der Autobahn üblich ist. So war er vom Weg abgekommen, auf mich zu. Doch alles kommt ans Licht, sagte Tante Luz, und ich, der Erste der Entkommenen, konnte nachher in der Zeitung lesen, wie es so weit gekommen war. Meine Autobahn, stand sie mir einst für die Ferne, so steht sie mir jetzt für den Tod.
Später hörte ich auch noch von einem zu schnell fahrenden Leichenwagen, der in eine Radarfalle geraten war, oder las es in der Lokalzeitung. Welches Recht kam hier zur Anwendung? Galt das Tempolimit für LKW oder PKW? Was ist ein Leichenwagen? Ein juristisches Problem, dachte ich. Überstürzt fuhr er, raste über die Autobahn, vielleicht zu dem in einer anderen Stadt gelegenen Krematorium, dem Heimatkrematorium, wo die Toten verbrannt sein wollten. Eine Überführung, möglicherweise testamentarisch verfügt: so in die Radarfalle. Dies wurde den Toten wohl auch noch in Rechnung gestellt, aber das konnte uns gleichgültig sein, und auch den Toten wuchsen keine grauen Haare mehr darüber. Ein Toter auf Reisen ... Doch ich war schon erschlagen, als ich den neutralen Leichenwagen - nicht schwarz, nicht weiß - davonfahren sah.
Ich sah ins Feuer - und schon hörte ich die Geräusche des Mittagsschlafs zweier Verliebter. Dieser Boden. Darum hatte der Peon (der Cowboy) seine hochhackigen Stiefel, seine Reiterhosen, sein Pferd, sein Gewehr. Dieser Boden, in den man sich verstrickte, der an Hosen und Strümpfen hängenblieb.
Und wie wir das Leben vor den Anden ausbreiteten! Wie wir es in Mittagsschlaf und Nachtisch, Liebe und Zahnschmerzen aufteilten!
Das Innenleben der Schafe wurde den Geiern überlassen, die hier auch nur in der Mehrzahl auftraten, so wie die Verliebten und wir
Die Gegend um Pico Grande war voller Höhlen.
In den meisten war gar nichts zu sehen außer Steinen und Knochen, die nicht viel anders herumlagen als im Museum für Vorgeschichte.
Wahnsinnig, die roten Hände, tausendfach eine wie die andere waren sie über uns ausgestreckt. In unmittelbarer Nachbarschaft dazu Tiere, alles ganz primitiv. Köpfe, Beine, Hörner und Schwanz, der berühmte Tiermensch mit seinem Schwanzzeichen in der Mitte: Das war zu sehen. Aufgerichtete und liegende Figuren, kreuz und quer. Das war Gruppensex, Hordensex, freie Liebe. Schon damals hatten sie die Geschlechtsteile über die Verhältnisse groß gemalt. Das hatte ich bereits in der heimatlichen Bärenhöhle beobachten können. In die Mitte der menschlichen, menschenähnlichen Figur hatten sie ein Riesengeschlecht gesetzt, das vom Oberschenkelzeichen bis zum Mundzeichen reichte, mit Leben gefüllt, nach oben gerichtet, ermannt, erigiert, eine unbezweifelbare Ausrichtung, Aufrichtung zum Himmel hin. Da war noch ein hingemaltes Riesenloch, fast so groß wie der Eingang zur Höhle, eine gigantische Möse, die den Raum füllte und geschlossen war. Das sagte nur so viel: dass das Universum einen sichtbaren Mittelpunkt hatte.
Hielt ich mich bei einer alten Geschichte auf?
Rosa trug Stöckelschuhe, wie bei uns eine Fremde in den Bergen. Sie war hinter mir her, ich mit meinen Ansätzen zum Free Climbing hing zwischen den Wänden. Zunächst sah es so aus, als ob ich sie töten wollte. Sie witterte, was ihr blühte, spielte mit. Nur wenn ich sie getötet hätte, wäre ich ihr noch näher gewesen.
Ich sah auch, dass der Mensch ein Geschlechtsteil hatte, das nach außen oder innen verlief, und er wusste nicht, wohin damit.
In Afrika schrien sie in den Urwald. In Afrika schnitzten sie an einem Gott herum, den sie dann mit etwas Glück verkaufen konnten, wenn nur ein Schiff kam. In der Südsee tanzten sie Hula-Hula und setzten sich zum Sonnenuntergang ans Meer. Ich erinnerte mich an die Menschen in den Gebirgstälern bei uns, die mitten in ihrem schönen Tal von ihrem schönen Tal sangen und sich am Bier berauschten. Sie mussten nur vor ihr Haus, und da war auch schon ein Misthaufen. Sie konnten kotzen, und alles war gut. Ich sah die Lappen am oberen Band meiner Erinnerung. Sie fanden für sich und ihr Vieh die Weideplätze, an denen sie eine Zeit lang leben konnten. Das Rentier graste überall, wo der Mensch in der Nähe war. Selbst die Nomaden fanden ihr Glück unterwegs. Sie zogen mit ihren Sternbildern. Dann und wann schlugen sie ihr Zelt auf und waren mitten in der Wüste die glücklichsten Menschen auf der Welt. Die Nomaden wussten nichts voneinander. Auch die Sesshaften wussten nichts voneinander, und wie schon! Doch sie teilten ihre Sternbilder, es war ein Glück, das sie trieb.
Früher war der Boden unter meinen Füßen ein Nomadenboden, ließ ich mir sagen. Jetzt saßen Tagelöhnergestalten vor ihrer Hütte, deren Vorfahren im Tross der Eroberer hierhergekommen waren und ihre Geschichte an den Nagel gehängt hatten. Nachfahren von Existenzen, die an den Rand des damals bekannten Endes der Welt abgedrängt worden waren. Er kroch am Boden. An meine Tiroler zurückdenkend, an meine grauen, lustigen Vorfahren, an meine Nomaden und ihre Sternbilder, den Zulu mit seinem Speer, seinen glücklichen Zähnen von der Jagd zurück, selbst an mich: Ich, auch ich musste mir sagen, dass jeder, der hier ankam, ein verdrängter Mensch war, von den sonnigeren Weideplätzen, vom Licht in der Geschichte, vom ersten Haus am Ort.
Wie erst ihre Kinder und Kindeskinder. Immerhin, den gröbsten Willen musste einer noch haben, mit dem er am Leben hing, um hier zu sein und zu leben, was dasselbe war.
Sie wussten nicht einmal mehr, dass sie starben. Sie wussten es, aber es war ihnen egal.
Draußen muss man sich eine Steilwand von hundert Metern dazudenken. Am Fuß dieser Höhle lag Pico Grande.
Patricia und Norma lagen in Zimmern für sich, deren Fenster auf das Anwesen von Don Fritz hinüberzeigten. »Alle im heiratsfähigen Alter, doch mit keiner war es weit her«, sagte Fritz, eine schrieb sogar Gedichte. Die Kleine wurde mir als gute Köchin präsentiert. Grazieila könne schon Königsberger Klopse zubereiten (nach dem Rezept von Fritz). Auch wasche sie wunderbar sein Auto an der Lagune.
Als aufrechte Gottheit war vor kurzem das Fernsehen eingezogen, thronte über den vollkommen verstummten Köpfen. Schwieg es einmal, dann wurde es zugedeckt wie zum Schlaf. Den ganzen Tag kamen Bilder aus Paris, aus Parfüm, mitten im Leben, mitten in der Wüste, Filme wie Über den Dächern von Nizza, Der Stadtneurotiker oder Wie angle ich einen Millionär?.
In unmittelbarer Nähe zu ihrem Leben tauchten da Gesichter auf, die niemals hierhergefunden hätten, Frauen, die sie nie zu Gesicht bekommen hätten mitten in ihrem schäbigen Zimmer, und lächelten auch noch ein steriles Lächeln.
So stöhnten sie, die Menschen, als wäre ihre Lust nur verdoppelt, nicht gelöscht.
Angesichts der Maul- und Klauenseuche sagte sie: »Bleib! Bleib!«, sagte sie
Zu meiner Zeit stand noch in der Hansestadt Bremen der Roland in der Mitte der Stadt; und in der Mitte des Rolands, etwa auf der Höhe der Lenden, unterhalb von Ave Maria und Requiem, die Gürtelschnalle, jene erstaunliche Gürtelschnalle mit dem singenden, dem musizierenden Engel; und hinter dem Engel, deckungsgleich, im Grund, das Geschlecht Rolands, aller Rolande dieser Welt, sein Gewehr, mein Gewehr, ein für alle Mal, ein Denkmal, zum Zeichen, woher wir rühren, dass wir aus Liebe sind. Mein Gewehr, meine Erbschaft, mein Testament. Ich, ein Kind mit Erbansprüchen, als Kind Karls des Großen mit meinen Erbansprüchen und mit meiner Erblast, mit allem, was mir zustand:
So musste ich Rosa gegen Ende meines Aufenthalts auch noch eröffnen, woher wir beide kamen. Zumindest versuchen musste ich das.
Ich hatte die Tabelle bei mir und rechnete.
Anhand der Tabelle war klar, dass ich ein direkter Nachkomme, ein Kind Karls des Großen war und sein musste.
Von wegen »alte Ferkelhändlerdynastie« und Schwackenreute - nur der Name stimmte - halbwegs.
Das konnte ich mit Gewissheit an Rosa, die meine Einsicht ja ebenso betraf, weitergeben. Ich sagte es ihr, fügte freilich gleich mein »Halte mich nicht für verrückt!« hinzu. Ich fing ganz von vorne an: mit meinen Eltern, zwei Eltern, mit meinem Friedhof, Friedhof Unserem, seinen vier Großeltern und, an selber Stelle acht Ur-Groß - immer noch, immer wieder: Eltern.
»Was hast du?«, fragte sie, denn ich war mit einem Mal verstummt. Was ich habe? Nichts. Meine Entdeckung, dass mir die Krone gehörte, die Krone des Heiligen Römischen Reiches, mir, und nicht der Wiener Schatzkammer, dass ich ein Recht darauf hatte, diese Krone zu tragen, wann immer ich wollte, oder sie zu verschenken, ganz wie ich wollte, mit meiner Krone umzugehen, ohne verrückt sein zu müssen, oder auch auf die Krone zu scheißen, und abzudanken, wann immer ich wollte. Wie sollte ich das Rosa erklären? Selbst auf die Grabkammern und ihren Inhalt hatte ich ein Recht. Ein unendliches Vermögen, ein unabsehbarer Besitz, der auf mir lastete: Die Grabkammern all meiner Vorfahren gehörten mir.
Ausgerechnet auf diesem Friedhofshügel, unserem Liebesnest, lagen nur wenige von meinen Menschen, lag so gut wie nichts von mir, wenige Tote nur, mit denen ich meine Vorfahren teilte, aber kein einziger Mensch, von dem ich abstammte, dessen Kind ich war.
Alle sie hätten, genauso wie ich, ihren Stammbaum einsehen, sich Gewissheit verschaffen können, woher sie waren, wenn auch nur durch ein Verfahren, das an den Glauben und den Unglauben grenzte. Die Einsicht, das Resultat, war so unvorstellbar wie das ewige Leben als Paradies.
Man hat mir meine Gräber ausgeraubt. Immer wieder waren die Grabkammern geöffnet worden. Aus reiner Neugier. Das Grab meines Vaters Karl immer wieder. Zuerst von Otto, der im Gegensatz zu mir gar nicht von Karl abstammte. Er wollte nur sehen, was aus ihm geworden war, und hat ihn, aus einer gewissen Schadenfreude, einem gewissen Respekt, aber auch aus einer gewissen Enttäuschung, dass er fast nichts anhatte, nur noch Fetzen in Braun und Bräunlich, neu einkleiden lassen. Er lag in den Farben des Todes da, vor ihm ausgebreitet. Otto hat damals triumphiert: Das war also der Beweis, dass er tot war, das Grab war gefüllt, gefüllt mit seinen traurigen Resten. Gut so. Aber jetzt noch eine Krone draufgesetzt, wenn auch nur den Reif aus Eisen, etwas Samt dazwischengeschoben, Samt auf den verblichenen Schädel des Alten. Mein armer Vorvater! Kaum dreieinhalb Jahrhunderte später kam Barbarossa und hat sich noch einmal Einblick verschafft, sage ich. »Wer war Barbarossa?«, will sie wissen. Der Name gefiel ihr. Barbarossa? Ein Kaiser, ein Ertrunkener, ein Toter. Er kleidete ihn noch einmal ein, diesmal alles aus Gold, selbst die Nägel des Sarkophags aus schwerem Gold. - Das alles gehört mir!, fiel mir wieder ein, einen Augenblick lang in der Geschichte versackt. War ich nicht der Einzige, der seine Abstammung kannte und daraus Schlüsse zog, die normalerweise als verrückt gelten mussten?
Ich als der Einzige, der seine Väter und Mütter kannte, von denen er wusste und nicht wusste, die in ihm lebten wie immer, wie ein Hund, die tot waren in ihm, für immer. Darauf war ich gestoßen, auf diese Hunde-wie-Menschen-Gräber, auf mich.
Das kam zu meiner ganzen Geschichte hinzu. Nein. Das ging ihr voraus. Das war die Bedingung ihrer Möglichkeit.
Ich sagte Rosa, dass sie dies verstehen müsste, wenn sie mich verstehen wollte, auch wenn sie und ich, wir, die Namen im Einzelnen nicht kannten und kennen mussten. Dass es um uns ging, um unsere Herkunft und Zukunft, um unser vorläufiges, weiteres Überleben.
Unsere Geburtstagsbriefe waren ja nur Ausgrenzungen der Umstände, unter denen ich und sie lebten.
Verstand sie mich, verstanden wir uns?
Unser Mundgeruch kam von tief unten. Wir wussten nicht, woher er kam, ein Geheimnis wie die Dinge, die unter dem Boden in meinen Gräbern vorgingen. Ein Mundgeruch war auch schnell vergessen, die Erinnerung hatte keine Präsenzpflicht. Aber jetzt vermischte sich ihr Mundgeruch mit ihren Fragen und meinen Antworten und meinem Mundgeruch.
Sie fragte, warum wir Licht der Welt sagen. Kind! Wenn ich das wüsste!
Nichts als Vorfahren, die nichts als Vorfahren hatten, ich mit nichts als Vorfahren, sagte ich ihr. Ein kleines philosophisches Mitbringsel, als kleines Memento meiner Erinnerung, ihr zuliebe diese kleine Ouvertüre, die das Generalthema, mein Memento, meine Frage, meine Erinnerung, Erinnerungswunde, das Loch im Kopf auch nur andeutete. Andeutungsweise: »memento«, »memoire«, »mori«, »mourire«, »mousse au chocolat«, »latoflex«, »Placentubex C«, »Vitamin C«, »Leben«. Ich spielte mit Wörtern und meiner Vermutung, welche Wörter sie schon kannte, kennen könnte, andeutungsweise. Schließlich gehörte sie der Romania an, auch hier unten noch, jenem weiten Feld, wo sterben nichts weiter als »mori« heißt, eine Ableitung von »mori« ist, das sich auch in »bleiben« verwandeln kann, je nachdem, wie gut du Latein kannst.
Es bleiben: die Toten, die Erinnerungen, die Überlebenden.
Es bleiben nicht: die Kinder, die Kinderbilder, die Schwalben.
Rosa lacht, aber ich schwindle. Kehren wir zurück?
Wir legten uns noch schnell in den Windschatten, ich sah eine Weile nur noch rot lackierte Fuß- und Fingernägel über mir. Ein Rot, das recht hatte, immer wieder recht bekam, und ich war drinnen und draußen. Schließlich waren wir auf dem Friedhof, der sich neben der Höhle zu unserem Treffpunkt gemausert hatte, und irgendwann mussten wir doch zurückkehren, das Essen wartete - und mein Leben lag mit der Schwere seines Schattens über mir.
Ich war eigentlich die ganze Zeit nur dabei gewesen, ihr und uns zu erzählen, woher wir kamen, ein Versuch. Was mit uns war, weiß ich bis heute nicht.
Mein Schmerz, ein Schmerz, der ein Schatten ist.
Dir zuliebe muss ich mich erinnern.
Erst einmal musste ich ihr Karl den Großen erklären. Erst einmal den Hosenstall zurechtgerückt und weiter in der Geschichte: Der Fall Pyrrhus lag ähnlich, erklärte ich. Erst die Nebenbuhler ausgebootet, dann per Elefant in den Sieg, ein Pyrrhussieg, die Arme der Frauen, die Nachkommen, sieh mich an!
Karl der Große, sein Harem, seine Frauen Gisela, Gislinde, Berengaria und wie sie alle hießen, seine (durch Barbarossa erzwungene) Heiligsprechung ...
Aber ich hätte auch mit Pyrrhus dem Großen anfangen können. Was wusste ich von Pyrrhus, außer, dass ich von ihm abstammte, in gerader Linie?
Karl der Große - ein Augenzwinkern, und schon hatte Rosa alles verstanden. Deine Urgroßmutter hatte sechzehn Kinder, von denen allein drei nach dem seligen oder heiligen Laurentius von Schnüffis getauft worden waren. Erst der dritte Laurentius überlebte, um dein Urgroßvater zu werden, sagte ich mir. Sechzehn Kinder! Ich sagte Rosa, dass man heute schon vier Nachkömmlinge ungestraft als Wurf bezeichnen dürfe.
Sogar mit H. bist du verwandt, wenn auch nur weitschichtig. Es hatte keinen Zweck, ihr auch noch diesen Namen auseinanderzulegen. Nicht einmal den Namen des Weltberühmten hatte sie gehört. Jetzt erfuhr sie von mir, dass sie mit ihm auch noch verwandt war. In einer Minute erklärte ich ihr, was Philosophie heißt, und auch die genealogische Beziehung, welche von einer gemeinsamen Mutterfigur herrührte, Lina Muffler aus Schwackenreute, die 1811 gestorben ist, du, ich und dieser Mensch können uns auf diese gemeinsame Tote zurückführen.
Hatte es einen Sinn, sie in all dies hineinzuziehen?
Es hätte schon genügt, Rosa klarzumachen, dass bei einem derart beschränkten Teilnehmerkreis von etwa 1000 im Zehn-Kilometer-Radius um Schwackenreute angesiedelten geschlechtsreifen und an diesem Verkehr teilnehmenden, nie in die Welt gekommenen, immer noch: Menschen, jeder von jedem abstammt, wie man vereinfachend sagt. Trotz der allgemein betriebenen Unzucht und Inzucht, die immer wieder zum Ausfall von Vormüttern führten, welche immer wieder in sich selbst zusammenfielen und den prächtigen Stammbaum schrumpfen ließen, war es selbstverständlich, gebot schon der Verstand, dass wir miteinander verwandt waren, auch wenn wir dies gar nicht aus den Akten wussten.
Zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern, 16 Ururgroßeltern, 32 Urururgroßeltern: Im Jahr von Linas Geburt hattest du schon 256 Mütter und 256 Väter, immer gleich viel Mütter wie Väter. Noch eine Null dran, und du kannst sagen, dass du von allen abstammst, herrührst, weiterdämmerst: Väter-Mütter, Väter-Mütter, Väter-Mütter ...
Ich habe jene Schweizer Tante nie gesehen. Rosa hat sie auch nie gesehen. Ihre Urgroßmutter war lange tot. Wir saßen ganz für uns, die Genealogie ausgefallen, bis auf zwei, drei noch lebende Vorfahren war alles tot. Alles tot, wir nur Reste am Ende einer nicht abreißenden Linie, die fast komplett dem Totenreich angehörte. Wir, fast ausgebrannt, wir, an der Stelle des Glimmens eines Fadens. Nur ich und du leben, sind am Leben, leben noch. Die anderen sind im Universum, in uns, alle tot, nur ich und du und unsere Erinnerung, Müllers Kuh ...
Wir hätten zum Mittagessen zurückgehen müssen, aber ich war auf Müllers Kuh gestoßen, hing an ihrem Seil mit allen, blutsverwandt. Abraham a Sancta Clara, noch ein Name, der spanisch klang. Die gemeinsame Mutter um 1650 aus einer Zahl von bis dahin 4096 Müttern. Er teilt mit seinen an der Pest gestorbenen Brüdern eine Gruft. Zu Fuß nach Wien ... unbeschuhte Augustiner-Eremiten. Ich bet' für dich! Behüt' dich Gott aus Kreenheinstetten. Unbeschuht, barfüßig, ab nach Wien. Ein Leben auf der Kanzel, dann die Gruft der Unbeschuhten Augustiner, Pater Abraham, eingekalkt, 1709 ein Pestjahr, Maul- und Klauenseuche, sage ich zu Rosa, damit sie mich versteht.
Zur Zeit der Entdeckung Amerikas hattest du 128000 Väter und ebenso viele Mütter, einige davon wurden als Hexen verbrannt. Die Erinnerung ist untergetaucht, aber alles tut weh vom Gehen. Der unbekannte Soldat, auch er war von dir, du kannst ihn zu deinen Vorvätern rechnen, Vater zu ihm sagen.
Als mein Vater Karl gegen meine sächsischen Väter zog, gegen meine Millionen ...
Ein abscheuliches Zahlenspiel. Ich hörte auf mit dem Zählen. Ich wusste nun, woher ich gekommen war, und konnte mir denken, wo es hinging. Es zog »ein Mondenschatten als mein Gefährte mit«.
Trotz allem: Das Mittagessen wartete auf mich. Das patagonische Schnitzel, kaum paniert, viel Fleisch, mein trotz allem gefräßiges Maul, das sich über die Welt und alles hermachte.
Es ist an der Zeit, dass wir unseren Namen preisgeben. Für wen halten uns die Leute?
Du heißt Rosa, Rosa Schwanz heißt du, nach deinem Vater, einem Schwanz wie ich. Wir alle stammen von jenem Schwanz ab, der aus Tirol in unser Haus kam, nur ein Müllersknecht.
Das ist die Wahrheit.
Sie wusste zwar, dass sie Rosa Schwanz hieß, doch was das noch hieß im Deutschen, wusste sie nicht.
Nun konnte ich Rosa verraten, dass man schon in Chile über mich gelacht hatte, als ich als Ziel meiner Reise Pico Grande nannte, wörtlich übersetzt: Groß-Spitz, metaphorisch: Groß-Schwanz, etwa so als deutsches Bild. Rosa wusste weder, dass man in Chile jenen Teil, der bei uns topographisch-metaphorisch Schwanz genannt wird, als pico bezeichnet, noch wusste sie, dass die Schwanz-Familie, die Schwanz-Seite (die Mutter war ja eine Indianerin), auf die sie sich so stolz berief, zu Hause nur ein Gelächter eintrug. Ganz zu schweigen von ihrem vollständigen Namen.
Am Tag zuvor hatte ich mal wieder Geburtstag und war bis dahin exakt 300000-mal errötet, nur wenige Male meines Namens wegen.
Im Grunde erschrak ich nur deshalb, weil ich Schwanz gerufen wurde, weil man einfach Schwanz zu mir sagte, Schwanz, schon in der Schule war ich nur der Schwanz und sonst nichts. »Schwanz in die Ecke! Schwanz an die Wand!« Beim Fußball wurde ich immer als Erster vom Platz gepfiffen: »Schwanz raus! Schwanz raus! Schwanz raus!«, brüllte es von den Rängen.
In alle Ewigkeit werde ich als Schwanz durch die Welt laufen müssen.
Ich werde zurückkehren und mit all meinen Feinden verschmelzen, Schmerz, mein Schmerz, Urahn meiner Erinnerung, und liegen, auf dem Heimatfriedhof, jenem gleichschenkligen Dreieck, »bein mit beine«. Dachte ich, der Einzige, der dachte wie ich. Ach.
Für alles hatte ich einen Satz parat, selbst für das Nichts.
Auf Feuerland war ich nie
Am Ziel. Hu Kiu Dsi Lin: »Welches ist das erhabenste Ziel des Wanderers? Das erhabenste Ziel des Wanderers ist, kein Ziel zu haben ...«. Ich stand nur einmal an der Magellanstraße, hinüberschauend, ganz in der Ferne sah ich Feuerland - ein Strich in meiner Landschaft, mehr nicht. Magellanstraße hieß dieser Teil von der Welt, das Wasser konnte nichts dafür. Cabo Virgenes: nach der heiligen Ursula und ihren 11 000 Jungfrauen. Ich weiß nicht, ob Magellan noch daran glaubte, aber am Fest dieser Unzahl von sonderbaren Heiligen stieß er auf diese Stelle, auf dieses Kap an der Südspitze Amerikas vis-á-vis von Feuerland.
Mein Blick hinüber. Das war alles. War alles ganz wie zu Hause.
Ich nur ein Ausflügler. Schwarzweiße Pinguine waren es, die Rosa sehen wollte. Aufgeregt watschelten sie davon, kaum dass wir sie erblickt hatten. Heute sind sie wahrscheinlich schon tot, alle, auch die damals noch gar nicht ausgebrüteten. Tot - oder gar nicht erst ausgeschlüpft.
An dieser Stelle fiel mir Moses ein. Schwamm über die Geschichte. Es war nur ein Ausflug. Auf dem Rückweg wurde kaum gesprochen.
Ich wäre am liebsten ohne Rosa gefahren, die nun, nach unserer Höhlengeschichte etwas verstimmt, ein Gesicht machte, wenn wir uns sahen, als wollte sie »Tomate« sagen, so schaute sie, wie die arme Dreckig auf der Treppe vor der Bahnhofswirtschaft von Sentenhart.
Auch nachdem ihr Mann wieder abgereist war, wurde es nicht mehr wie bis dahin. Und ehrlich: Es war ja auch nicht gar nicht so viel gewesen. Es war nicht viel. Doch es war alles.
Sie hatte das Auto, und außer mir gab es in Pico Grande noch zwei andere, die etwas von der Welt sehen wollten, Touristen, Deutsche, zwei, die auch ihr Futter haben wollten und etwas sehen, die genau wie ich auch nach Pico Grande gefunden hatten, das hätte ich längst sagen können, denn diese zwei waren von Anfang an auch da oder dabei. Er Chirurg, sie Zahnärztin, Verwandte von Fritz, die Tochter seiner Schwester in München. Zusammen wollten sie sich nach dem Erbe umsehen. Doppelt so alt wie ich waren sie und doppelt so klug und geizig. Sie hatten alles ausgerechnet, und so, mit Rosa und mir, kam es am billigsten.
Die Fahrt nach Feuerland hatte ich mir aber als Höhepunkt ausgedacht.
Zwischen Gobernador Costa und Trevellin auf halbem Weg ein nicht identifizierbarer Gedenkstein, der in der Mitte eines Ossariums stand.
Zuletzt ging die Straße in eine Fährte über, dann waren wir an der Magellanstraße. Es folgte ein Essen mit viel Weißwein und die Erinnerung an das Beinhaus.
Es war ganz wie zu Hause: Das nicht zu Verschmerzende wurde mit Wein hinuntergespült, das schwer Verdauliche, das Schweinefleischleben.
Ehrte es die Toten, dass sie tot waren?
Tod, wo ist dein Stachel? Die Gebeine der Indianer waren spurlos verschwunden wie die Indianer selbst. Kein einziger Indianerknochen lag da im Beinhaus, nur in jenem letzten Gemetzel umgekommene Sieger, will sagen deren Knochen. Der Ort war traurig, namentlich das Gebeinhaus von innen, wo es außer einer Wand aufeinandergeschichteter, längst ausgebeinter Schädel nichts zu sehen gab. Sie waren geschützt vor der Nachwelt, damit nicht doch noch irgendwann ein Indianer aus dem Urwald gerannt kam. Ein grobschlächtiges Gitter verschaffte den Köpfen dahinter eine relative Sicherheit.
Das Beinhaus, im Windschatten des Beinhauses ein kleines Gotteshaus. Da hatte wohl noch vor kurzem ein kleiner verstreuter Haufen von Nonnen ein brüchiges, windschiefes Ave Maria vor sich hin gesungen und war nun auch tot, bis dahin bezahlt von frommen Nachkommen gottesfürchtiger und siegreicher Soldaten, Granden und Infanten, als hätten sie für mich gesungen, so schwarz war nun alles. Der Himmel schwebte derweil über dem Abgrund, meine Seele, meine Todesstunde.
Dann wieder die hingefleckten Siedlungen mit ihrem Blut, den Menschen aus Blut, von der Straße aus, die Etappenziele mit ihrer roten Vergangenheit.
So lag es schließlich vor mir, das Kap der Jungfrauen.
Und Schiffwracks lagen auch noch da, als wären es Gerippe oder Windeln der Erinnerung.
Auf dem Rückweg wurde kaum gesprochen. Rosa war so mundfaul, dass sie den Fahrer von Zeit zu Zeit auf den rechten Handrücken schlug, zum Zeichen, dass er vom dritten in den vierten Gang schalten sollte, schließlich saßen wir in ihrem Fahrzeug. Das war alles. Außerdem haben wir noch ein Schaf angefahren, zwei Schafe, die uns ins Schleudern brachten und beinahe auf den Kopf gestellt hätten. Wir kamen zum Stehen, sahen uns an, ob alles in Ordnung war mit uns und dem Wagen, wir tasteten uns ab. Nur ein paar Schrammen.
Aber da lagen noch die Schafe auf der Fahrbahn, zwei Schafe, Mutter und Kind. Wir wussten erst nicht, ob wir einfach weiterfahren sollten, zwei Schafe zählen ja nicht. Aber sie lebten noch. Erst das Kleine, dann die Mutter, die vor sich hin stierte, wahrscheinlich alle Knochen gebrochen hatte und gerade dabei war, von innen her zu verbluten ... »Scheiße«, sagte ich an der Stelle von »Ach Gott!« und »Du lieber Himmel« vor mich hin, ein Stoßgebet, »scheiße, scheiße«. Als ob alles darauf hinauslaufen müsste.
Der Todesfahrer, der zudem ein Chirurg war, solle das Töten übernehmen, während die zwei Frauen etwas abseits hinter dem Auto warten sollten - oder die Zeit für ihr Geschäft nutzen, schlug ich etwas kopflos vor. »Du bist Chirurg!«, befahl ich.
»Aber ich bin doch kein Metzger!«, antwortete er eingeschnappt und überheblich.
»Du kommst doch vom Land! Mach du!«, herrschte er mich an.
»Töte du!«, verlangten auch die zwei Frauen von mir.
Aber dann haben wir uns gefangen. Dann haben wir alle zusammen geholfen. Die eine trug den Stein herbei, den der andere verlangt hatte. Ich hielt den Kopf, die andere rückte ihn zurecht. Erst das Kleine. Die Tiere waren uns nicht so fremd wie die Pinguine. Wir wussten in etwa, wo ihre Adern verliefen, wo wir schneiden mussten. Erst der Schlag, flash!, Schlussbild. Jetzt das Messer, ein einfaches Schweizer Taschenmesser, das Norm-Messer, mit dem wir uns beim Picknick das Brot vom Laib schnitten. Dann das Alte. Als alles tot war, zogen wir die beiden zur Seite, auf die Seite gelegt, sah man ihnen fast nichts an, sie hätten so auch leben können, nur etwas Blut aus Maul und Ohren, das sich seine Bahn durch den dichten Schafspelz suchte, hellrotes Blut. Wir hätten es doch nicht fertiggebracht, diese Lebewesen, die uns noch wie Sterbende anstarrten, einfach liegenzulassen. So zogen wir die beiden zur Seite und ließen sie nebeneinander an Ort und Stelle. Der Wagen war noch fahrtüchtig.
Mit einer von niemandem bemerkten Verspätung kamen wir in Pico Grande an.
Ich schaute auf die Uhr, bald würde es schneien
Nun, da meine Maul- und Klauenseuche ausgebrochen war (die Diagnose kam von mir, keiner konnte mir sagen, was mir fehlte), o ja, ich wusste es ganz genau ... Bald wäre ich wieder bei Dr. Methfessel.
Hatte ich mich nicht längst an meinen Schmerz, mein Leben gewöhnt?
Ich nannte nun das, was mir fehlte, was ich hatte oder was war: Maul- und Klauenseuche, meine konsumierende Krankheit, tödlich und unheimlich wie sie. Hatte mich Medizinern anvertraut, jenem Beruf, der vor hundert Jahren noch wissenschaftlich begründete, dass man an Onanie starb, und aufzählte, wer alles an dieser Krankheit schon gestorben war, wäre auch ich gestorben, denn was war meine Krankheit gegen die unschuldige Onanie!
Eine letzte Stunde bei Fritz, ganz allein, ohne die Verwandten, die verschreckt waren von dem, was sie zu Gesicht bekommen hatten, und vielleicht noch von allem, was man nicht sehen konnte, und was es doch auch hier gab, wie ich auch.
Ich habe, ganz am Ende, eigentlich nur wissen wollen, wie es zu Hause war. Seine Reise lag nun schon wieder viele Jahre zurück. Und warum er nun wieder hier lebte.
Von seiner Schwester war er schon mehrfach genötigt worden zurückzukehren. Schließlich war Fritz einfach ein Flugticket (open end) zugeschickt worden. Er solle kommen und sich alles anschauen, alles, was sie sich im Verlauf einer nun schon vierzig Jahre dauernden Nachkriegszeit angeschafft hatten, nachdem die Flüchtlingsgeneration alles verloren hatte und überhaupt wieder einmal nur die Robustesten mit dem Leben davongekommen waren.
Die Schwester wollte ihn noch einmal sehen, ja, sie schrieb von »Platz genug« und »immer bleiben«, was für Fritz nur heißen konnte, er solle nach Hause kommen zum Sterben. Sie hatte ihm die elektrischen Geräte geschickt, den Braque, von dem die Doctora sagte, das Bild sei nichts anderes als ein gerahmtes Poster, die Ostsee, die Kopie seines Meeres, das an seiner Wand hing.
Dann fuhr er doch.
Aber kaum in München, wurde er krank.
Vielleicht brach seine Krankheit auch nur aus. Fritz, der sein Leben am Rand von Pico Grande verbracht hatte (nur einen kleinen Teil davon im Provinzgefängnis von Comodoro Rivadavia wegen Unzucht), musste schon am zweiten Tag seines Aufenthalts in ein Münchner Krankenhaus eingeliefert werden. Seine Schwester, im Berufsleben ein hohes Tier beim Deutschen Roten Kreuz, hatte ihm sogleich einen der im Deutschen Krankenhaus so zahlreich auftretenden Spezialisten verschafft, sodass er zunächst annahm, trotz allem in guten Händen zu sein, in einer Lage, die er in seinem ersten Brief nach Pico Grande als Glück im Unglück beschrieb.
... »Das gab mir zu denken ...«
... im Münchner Krankenhaus entfernte man mir zunächst einmal ein kindskopfgroßes Geschwür aus dem Unterleib. Man hat mir dieses Geschwür nicht gezeigt und auch nicht gesagt, wo es schließlich verschwunden ist (wohin mit dem chirurgischen Abfall?) - aber hätte ich nicht ein Anrecht darauf gehabt, es wenigstens zu sehen? War es nicht mein Geschwür? Als Kind konnte ich doch meinen Milchzahn auch in ein Taschentuch wickeln und vom Zahnarztstuhl weg mit nach Hause nehmen. Kindskopfgroß behauptete eine Assistenzärztin, die mich betreuen sollte, auf mich angesetzt war und immer wieder mit großen Schritten ungefragt und ohne Gruß hereintrampelte. Wir mussten fast alles entfernen! Der Professor hat Sie gerettet! Meine Operation war nach unergründlichen, über Nacht einsetzenden Schmerzen unvermeidlich, wie mir gesagt wurde. Kein einziger dieser in Massen auftretenden vernünftigen Menschen bezweifelte den Eingriff, aber ich war es, der unterschrieb, der die Verantwortung auf sich nahm. Meine Schwester hatte mir schon vor dem Eingriff eingeflößt, wie dankbar ich sein müsse, von einer solchen Kapazität behandelt zu werden. Das Bild eines Lebensretters wurde mir aufgedrängt, die Vorstellung eines großen Menschen, eines Übermenschen, dessen Schwächen, sofern sie bekannt waren, als klein entschuldigt wurden. Er opferte sich so sehr auf, dass er nicht einmal Zeit fand, mich zu begrüßen. Er verzehrt sich für seine Patienten, hörte ich. Ich hörte von Geschenken pflichtschuldiger Geretteter. Die nicht Geretteten schwiegen in ihrem Grab.
Ein Bauchplatzer! Nach diesem Zwischenfall hat sich der berühmte Chirurg nicht mehr sehen lassen bei mir. - Ob er so berühmt war, weiß ich gar nicht. Überhaupt halten sich die Ärzte für berühmter, als sie sind, aber der einzige weltberühmte deutsche Arzt des zwanzigsten Jahrhunderts heißt Mengele, getauft nach dem heiligen Josef, dem Ziehvater Jesu und Patron der Arbeit. Beide ausgesprochene Handwerker. - Ich hatte nichts mehr in Händen als Gedärme, meine eigenen Innereien. Einfach einschlafen, tot umfallen? So schnell geht das nicht. Der Tod lässt sich Zeit mit uns. Plötzlich lag ich im eigenen Blut, zufälligerweise auf der Intensivstation, auf der Stelle wurde ich ohnmächtig. Wir sind schwach, unser Gewebe ist schwach, die Narbe, je länger sie ist, desto eher reißt sie auf und will nicht verheilen. Ich bin noch einmal davongekommen.
Gerade am Rande des Todes, aber die Assistenzärztin machte schon wieder ein Gesicht, als ob mir ihr berühmter Chirurg das Leben gerettet hätte, wo er mich doch nur noch einmal in Todesgefahr gebracht hatte. »Das durfte nicht vorkommen!«, hörte ich. Und sogleich wurde auch bestritten, dass es vorgekommen war. Meine Schwester eilte bestürzt ans Krankenbett. So etwas komme in der heutigen Medizin, die doch die beste sei, die es je gegeben habe, bei hunderttausend Operationen nur einmal vor, behauptete sie. Schuld sei nicht der Arzt, sondern mein schwaches Gewebe. Schön, dass du lebst! - Und dann?
Zu meiner Zeit konnte noch jede Schneiderin ihren Knopf annähen, ein Scherenschleifer schliff seine Schere zurecht. Der Metzger wusste nicht nur, wie er sein Schwein aufschneidet und ausbluten lässt, er wusste auch noch über alles Bescheid, was dann kommt. Sogar ein Meteorologe war zuverlässiger als jener Chirurg, der mir einfach den Bauch aufschnitt, den Kopf, das Herz, und nichts damit anzufangen wusste. Ich lag in meinem Krankenzimmerbett, am Ausbluten. Der Facharzt kam herbeigeeilt und wusste nichts anderes mit mir anzufangen, als die Wunde, die er mir beigebracht hat, noch einmal zuzunähen. Ich hätte mit meinem Bauch zu einem Medizinmann gehen sollen. Er hätte mir mit seiner Hand, mit seinem Herz, mit seinem Blut geholfen, er hätte mich gerettet. Aber mein Doktor, der mir auch meinen Totenschein ausgestellt hätte, ohne mit der Wimper zu zucken, ließ mich einfach liegen, mir hätte der Tod blühen können. Aufschneiden, zunähen, den Totenschein ausstellen, aber vorher bin ich, ein Vierzuteilender, zwischen Leben und Tod, Operationssaal und Tiefkühltruhe hin- und hergerissen worden. Es kann ganz lang oder ganz kurz dauern, je nach Zufall, Tageszufall, in wessen Klauen einer geraten ist. Ich hatte Glück, ich lebte, lebte noch mit meinem Bauchplatzer, meinen Händen, meinem Gedärm in den Händen.
Es gibt auch einfachere Fälle. Nehmen Sie ein gewöhnliches Raucherbein. Ihnen wird alles vom Fuß bis zum Oberschenkel abgeschnitten. Das Raucherbein wird entfernt, in die Chirurgentonne damit! Und so sollen Sie für den Rest Ihrer Tage auf der Welt herumlaufen? Vor Scham lässt sich der Chirurg kein einziges Mal mehr sehen. Ihr Bein, mit dem Sie doch laufen lernten, kommt als chirurgischer Abfall ich weiß nicht wohin. Das Raucherbein ist nun wirklich allein, bis zum Ende wird es seinem Verlust nachtrauern, bis zum Ende wird es hinter seinem Bein herlaufen, das ihm vorangegangen, ihm voraus ist.
Diesem Arzt verdanke ich mein Leben! Wie oft habe ich diesen Satz gehört. Das Gegenteil konnte ich freilich nie hören. Grenzenlose, uferlose Dankbarkeit der Überlebenden, die Tränen in den Augen des Raucherbeins. Selbst es schreibt noch einen Dankbrief, den ein Chirurg aus Scham nicht zu Ende liest. Es will seinen Retter doch wissen lassen, dass es schon wieder auf den Beinen ist und alles essen kann. Die Rollstuhlindustrie wächst ins Unermessliche.
Wer reinigte die Fleischmesser?
Die Putzfrauen kratzen das Operationsfleisch aus den Ritzen und Bohrern und Zwischenräumen. Menschenfleisch ist süß, süßlich. Das wissen Sie alles.
Mein Chirurg sah das freigelassene Stück Haut, die Oberfläche, und malte ein Operationsbild auf meinen Körper, er zeichnete den Schnittweg. Ich, der Patient, der Fall, das Objekt, war längst weggesackt, im Glauben, geheilt zu werden. Doch außer meinem Röntgenbild kannte mein Chirurg nichts, wusste er nichts von mir. Er kam nicht mit mir, nur mit meinen Röntgenbildern in Berührung. In einem Großbetrieb kommen die Röntgenbilderakten immer wieder abhanden. Auch ganze Menschen verschwinden in diesem Schlachthof, der Krankenhaus heißt, in der Mangel von Knochensägern, die Chirurgen heißen, Schwestern ausgeliefert, die keine sind, von Krankenpflegern zu Tode gepflegt. Nur der Kranke, nur ich hatte meinen Namen zu Recht.
Spätestens als sich der Krankenhausgeistliche neben mein Bett setzte, wusste ich, dass man mich aufgegeben hatte. Immerhin bescherte mir die Unfähigkeit der Ärzte einen Anstaltsgeistlichen, der sich an mein vermeintliches Sterbebett setzte und fromm auf mich herunterblickte. Das war ein verdecktes Geständnis, dass sie nicht Herren über Leben und Tod waren. An dieser Stelle wusste ich endgültig, dass Arzt und Versager dasselbe ist, war und sein wird. Denn wie konnte es gleichzeitig Ärzte und Sterbebetten geben?
Wenigstens der Anstaltsgeistliche hatte sich in den Kopf gesetzt, mich zu retten. Was wäre so ein Geistlicher ohne das Sterbebett, sein ganzes Kapital? In meinem Sterbebett hatte ich Zeit, über das Leben nachzudenken. Das Sterbebett, diese heimliche Bankrotterklärung des Arztes, war andererseits auch sein ganzes Kapital: sein Monopol auf den am künstlichen Leben erhaltenen Patienten, die goldene Zitrone. Eine gemeinsame Kapitalanlage, wenn auch ganz unterschiedlich investiert: für Arzt und Geistlichen ist das Sterbebett eine Goldgrube. Ein gutes Bett wirft jeden Tag so und so viel ab. Gleichgültig, wie groß die Schande, Arzt und Priester wollen, dass sie erhalten bleibt, dass dieses Bett seinen Platz in der Welt behält und immer wieder neu gefüllt und ausgenommen werden kann.
Dann und wann gelang es dem Geistlichen sogar, dem Kranken einzureden, dass er verloren war, sei und sein werde. Der Fisch biss an, der Kranke begann zu weinen, zu reden und zu bereuen, zu singen, er verriet alles, sein Leben, und wollte nur noch erlöst sein. Aus dem Handköfferchen heraus wurde ihm die Letzte Ölung erteilt. Ich hätte »ja« sagen sollen zum Tod. Der Priester wollte mich für den Himmel haben, mich für die ewige Seligkeit buchen. Danke schön, heute nicht. Ich verriet ihm, dass ich nicht katholisch war, in meinem Leben nicht. So viel konnte ich gerade noch aus mir herausstöhnen.
Der auf mich abgerichtete Arzt saß derweil in der Teeküche. Man hatte mich offensichtlich aufgegeben. Von den Ärzten ließ sich keiner mehr sehen. Man hatte mich an den Geistlichen abgetreten. Aber auch der war verschwunden. Kaum als ich abgelehnt hatte, war er eingeschnappt aus meinem Sterbezimmer verschwunden. Mein Fall war fast abgeschlossen.
Doch mein Blut verfärbte sich nicht. Wasser und Blut blieben eins. Irgendwann stand eine ganze weiße Horde an meinem Bett. Man zeigte auf mich, und die Assistenzärztin meldete ein Wunder: Der Chefarzt hat Sie gerettet. Gott und der Chefarzt, warf der zurückgekehrte Geistliche ein, der sich das Wunder nicht nehmen ließ. Ich wurde nicht in die Tiefkühltruhe geschoben. Mein Fall war doch nicht abgeschlossen. Man rief meine Verwandtschaft nicht an, ich sei tot, sondern ich sei am Leben. Man könne mich jederzeit abholen.
Das war Fritz.
Und wer war ich?
Für den kleinsten Schmerz, den kleinsten Schnitt verlangte ich schon nach einer vollkommenen Betäubung. Ich nahm auch lieber den Tod in Kauf als ein paar Stiche ins eigene Fleisch, die ich als solche wahrnahm. Ich war schmerzscheu, immer wieder musste man mich einschläfern. Und so dachte ich, von Fritz bestärkt, nun bis zum Ende meiner Reise.
Eigentlich wollte ich gar nicht sterben, so viel war mir klar, ich wollte doch nichts anderes als einschlafen und nie mehr erwachen, schon gar nicht im Himmelreich.
Sie wollten mir noch etwas zeigen, die restliche Zeit noch füllen
Sie schleppten mich am letzten Abend noch in einen Dia-Vortrag, ganz wie zu Hause, heimatlos, ein fahrender Geselle, mit seinen Bildern nach Patagonien abgedrängt. Hätten es Bilder von mir sein sollen, von zu Hause, von meinen Frauen und Kindern, von meinen sich verlierenden Vorfahren und Vormenschen? Doch ich kam nicht mit ihnen.
Aber dann trat an meiner Stelle ein anderer fahrender Geselle auf, ein verhauenes Gesicht, eine Erscheinung wie ein Vileda-wischlappen, doch die Leute klatschten, sie wollten Bilder sehen.
Ich war noch drei Tage hier, driftete wie ein Beiboot auf Wasserfall und Abreise zu.
Ich war hier, das erinnerte mich an eine Weisheit vom Klo.
Zuletzt wussten sie aber nichts mehr mit mir anzufangen.
Sie schleppten mich ins Klubgebäude, um die Zeit zu vertreiben, ganz so, wie ich es schon sehr früh zu Hause mit meinen Gästen machte, die ich, statt ihnen etwas zu bieten, in einen Sexfilm mitnahm.
Er war der letzte Mensch, den ich in Pico Grande kennenlernte. Wie hatte er hierhergefunden?
War er vermittelt worden, oder hatte er es aufgespürt? Gesagt bekommen: Da leben auch noch welche, zu denen kannst du noch, die haben dich noch nicht gesehen, denen kannst du zeigen, was du willst?
Und er machte sich den Weg durch die Massen frei, die Reihen, die wenigen, halbvollen, ich bangte, als wäre ich schon ein Schriftsteller, der die Reihen durchgeht und die leeren Plätze zählt, oder kurz vorher noch, den Satz des Veranstalters »Es hat keinen Sinn mehr zu warten. Fangen wir an!« gehört hat, und es war ein kleiner Sprung, schon war er auf dem Tanzboden, und seine Assistentin (Gottes Ebenbild) war auch schon vorgestellt und beklatscht: Nun hörte ich »Rio de Janeiro«, »Santiago de Chile«, »Montevideo«, »Buenos Aires« und »Paris« heraus. Er nuschelte gekonnt, sie aber hatte mit einigen Handbewegungen gegen das Publikum hin und vom Publikum weg schon die Leinwand entrollt.
Der Friedhof war mir gezeigt worden, die nummerierten Seen hatte ich hinter mir, das Muttermal, die Maul- und Klauenseuche, und die Assistentin gab nun ein Zeichen zum Klatschen. Sie machte es vor, ein heftiges Lächeln stand in ihrem Gesicht, die weiß lackierten Schuhe ihres Meisters erinnerten mich an Meier, mit dem ich zum Fußballspiel nach Bariloche gefahren war und der mit mir über die möglichen Daten des Endes der Welt spekulierte, sich im Wissen wiegend, dass er dies nicht mehr erleben müsse.
Sie war in Rosa getaucht, ging in Rosa unter, alles an ihr glitzerte, ein Mensch, der sich selbst abhandengekommen war, so das Bild des Abends. Sie schleppte den Zeigestab hinter ihm her, er eilte zum Apparat, einem vieleckigen Monstrum. Totenstille, denn mit einer einzigen Handbewegung über die Köpfe hinweg hatte sich der kleine Mann schon von Anfang an Ruhe verschafft. Er gebot über sie. Auftritte im Zoo und beim Militär waren wohl vorausgegangen.
Sie ging mit dem Hut herum, kam zu mir, sah mir ins Gesicht, doch sie ließ mich nicht aufkommen, schließlich kam sie aus Rio, Santiago, Montevideo und von überallher, während ich von nirgendwo kam. Sie zählte mich zu denen, die nicht zählen. Schade um dich, du warst nie in Paris, du wirst Paris nie sehen, so schaute sie mich an. Sogleich wurde sie wieder energisch, rückte ihre Mähne zurecht, kam in der Gegenwart an: Es soll jetzt losgehen!
«Señores! El Maestro!« Eine leere Stimme, ein leeres Grab, doch sie machten ein Fest aus sich, ganz weiß, ganz rosa. Er hatte ein unbestimmbares Alter erreicht. Alles an ihm glänzte in einem letzten Stadium der Zerknitterung, die mich an einen bösen Witz erinnerte, der um das Wort »verreckt« herum angelegt war.
Eine Art Partnerlook war es, die fehlenden Zähne bei ihr und bei ihm an der gleichen Stelle.
Sie hatte den Mangel großzügig ausgeglichen, mehr als ausgeglichen, wettgemacht durch ein hinreißendes Rot auf den Lippen, ein zerfließendes Rot wie in den Filmen einer anderen, besseren Zeit.
Dann das erste Bild. Ich hatte mir sagen lassen: ein Vortrag über den Kongo, von den Negern und wilden Tieren und von den Menschenfressern.
Sagte nicht einer, »Geschichte ist die Sinngebung des Sinnlosen«? Wollte ich nicht »Geschichte« durch »Schreiben« ersetzen? Konnten sie von der Natur und der Geschichte gar nicht genug kriegen?
Es war noch einmal ganz wie zu Hause, wo es Menschen gab, die am liebsten Tierfilme sahen und wie der Tiger ins Netz ging und der Elefant zur Strecke kam. Und der Höhepunkt jenes Films war, wie die Tigermeute, die auch ihren Hunger hatte, es schließlich doch geschafft hatte, diesen König der Savanne, dem sonst auch ein Tiger nichts anhaben konnte, der gerade noch ganz gemählich zur Wasserstelle getrottet war, an all diesen hungrigen Mäulern vorbei, der sich wieder, der Durst war gestillt, ganz gemählich auf den Heimweg machte, wie dann aber, von einem unbeschreiblichen Augenblick an, in dem sich wohl das »Geheimnis des Lebens« verbarg, wie all jene glaubten, die selbst in dieser Geschichte noch einen Sinn sahen, ohne Zyniker zu sein - wie nun Bewegung in die Geschichte kam, die Tiger waren ihm auf der Fährte, er sah es im Rückspiegel seiner Sinne. Wie der Elefant nun zu laufen begann, erst ganz gemächlich, immer mit der Ruhe, mit einer Elefantenruhe, und wie schnell er laufen konnte und immer schneller, und wie der frechste Tiger nun zum ersten Mal in diesen Elefantenfuß biss.
Nun ging es nicht mehr lange. Aber noch lange genug, so lange, dass auch diesem Elefanten nun klar wurde, wie lang der Schmerz und wie kurz das Leben war. Nun bissen diese Tiger abwechselnd von rechts und links, einmal mehr oben, einmal mehr unten, bissen sich in ihren Nachbarn hinein, der es damals auf der Savanne für ganz und gar ausgeschlossen gehalten hätte, dass dies einmal geschehen würde, dass seine Savannennachbarn einmal so mit ihm umgehen würden, und der Elefant rannte immer noch weiter, als wüsste er, wohin. Und zuletzt hatte es einer der Tiger geschafft, auf diesen Elefanten, der immer noch lief und lief, hinaufzuspringen, ihn zu erobern, und wie im Zirkus der Akrobat, eine Zeit lang so das Gleichgewicht zu halten, im Laufen, bis der Elefant das Gleichgewicht verlor und - nun war es nicht mehr weit. Die Geschichte war bald zu Ende. Das ist schon fast die ganze Geschichte, das die Zeit seines Sterbens über vollkommen stumme Tier (nur sein eingeblendetes Schnaufen hörte man durch den Lautsprecher, wie auch die wie ein Trommelfeuer einschlagenden Bisse) wurde nun vom Helden des Tages zu Fall gebracht, fiel um, schrie auf, als wäre es ein Todesschrei.
Da lag er, der Elefant mit seinem Elefantenhirn. Das hätte er nie gedacht, dass er einmal so daliegen würde und dass es aus wäre. Es folgte der Weltuntergang, und nun hätte es eigentlich ein Erdbeben geben müssen.
Und dann war Schluss, Sela, Psalmenende. Das Lebewesen lebte zwar immer noch. Aber das Weitere, nachdem der erste Hunger der Tigerfamilie gestillt war, sah man nun nicht mehr, und mit den blutverschmierten Mäulern und dem immer mehr in ihnen verschwindenden Elefanten endete diese Geschichte, und der Film ging an einer anderen Stelle weiter, mit Stimmungsbildern, Naturimpressionen, Landschaften voller rosaroter Flamingos, wie ich sie gerade an der Lagune von Sarmiento nicht schöner gesehen hatte.
Es war alles ganz wie zu Hause.
Und wie zu Hause, wo meine Freunde, je nach Charakter, bei der Augsburger Puppenkiste schon gelacht hatten, wenn der Bösewicht vom Pferd gestoßen wurde, und noch mehr, wenn er unter Fluchen und wilden Schreien totgemacht wurde, so war es nun auch hier.
Und wie es damals, im Himmelreich und in Meßkirch war, so war es auch im Kongo und hier: Die einen lachten, und die anderen weinten. »Darin glichen wir uns, dass wir uns nicht glichen. Darin waren wir uns ähnlich, dass wir uns nicht ähnlich waren.«
- Mir war es mit Pico Grande zu viel geworden, auch wegen dieser Leute, die auch nicht schlimmer waren als ich. Es gab auch hier Menschen, die lebten vom Tod und vom Waffenhandel, irgendwie waren diese Dinge aus Texas und Überlingen schließlich hierhergekommen. Die Einheimischen hatten längst vom Menschenfresser auf Schnellfeuerwaffen umgestellt, dachte ich.
Da hatten diese Bilder von den Menschenfressern, die nun folgten, etwas rührend Unbeholfenes, als wäre es die gute alte Zeit gewesen, verglichen mit heute, dachte ich.
Er versicherte gleich beim ersten Bild, dass er es selbst aufgenommen habe. Die Vorgeschichte des Bildes war schnell erzählt, wenn auch kompliziert. Er berichtete von der abenteuerlichen Hinreise und dann auch davon, wie es ihm gelungen war, wieder zu entkommen. Schon die Ausführungen zum ersten Bild waren vom Entsetzen der Zuhörer gezeichnet. Als der erste Neger zu sehen war und zum ersten Mal das Wort Menschenfresser fiel, musste ich doch wieder, um meinem Entsetzen zu entkommen, in das damals abgebrochene Programm des autogenen Trainings fliehen, und ich wählte irgendein Wort zur Beruhigung, das mir einfiel, und ich sagte lautlos und litaneiartig »ichtys, der Fisch - puella, das Mädchen« vor mich hin: »ichtys, der Fisch - puella, das Mädchen.«
Auch der Mensch von Pico Grande hatte sich tatsächlich schon vom ersten Bild berauschen lassen, das einen Schwarzen zeigte, der in Kriegsschmuck und bunter Bemalung die Besucher des Lichtbildervortrages anstarrte, während ich weiter, um mich abzulenken, unsinnige Sätze vor mich hin sagte, wie »Ich esse gern Verkochtes«, was im Hinblick auf den falschen Menschenfresser doppelt unsinnig war.
Genüsslich hatte die eine die Gesichter gelesen. Die Begierde, die schon das erste Bild auslöste, würde ihr gelten. Sie würde profitieren, die Lust abkassieren, absahnen. Es genügte schon ein gefärbtes Haar. Im Mai war man vielleicht schon in Feuerland.
Die Bilder aus Afrika, den Kriegsschmuck, die bunte Bemalung konnte ich mir nicht erklären, vorerst nicht erklären. Der Vortrags-Reisende, der in der Pension von Marquez, im Stall von Marquez, Stall von Pico Grande untergekommen war, erklärte seinerseits die Geschichte seiner abenteuerlichen Reise, die Yacht, die Tage der Überfahrt, die Ankunft in Accra, die weiteren Stationen Lome, Cotonu, Lagos. Schließlich den Niger hinauf bis nach Timbuktu und wieder hinab nach Kulikoro und Bamako, denn der Niger verläuft wie der Arsch der Venus, erklärte er den staunenden Zuhörern, zuerst den Männern von Pico Grande. Ganz wie zu Hause -
Aber ich war niemals bei Menschenfressern zu Besuch.
Ich lebte nur im braven Mesopotamien, wir waren Leute, die das Jahr über bei MTU arbeiteten, Waffen und Waffenzubehör produzierten, Leute, die irgendwelche Rädchen waren und fertigten, waren wir, Exportweltmeister bis auf den letzten Kriegsschauplatz, und an Weihnachten wurden wir ganz besinnlich und spendeten für die Opfer von Streubomben und für Adveniat. So war es im Jahr, als ich ohne mein Muttermal nach Patagonien aufgebrochen war.
Und ein paar Jahre zuvor, als ich noch festsaß, kamen Menschen zu mir und infizierten mich mit ihrer Sehnsucht bis zum heutigen Tag, die mich erst in die Welt führte, dann zu Dr. Schwellinger, schließlich zu Dr. Methfessel, und jetzt war ich immer noch hier.
Meine Reisenden kamen vom Volksbildungswerk. Sie waren mit Lichtbildern von der Blauen Grotte unterwegs. Sie zeigten mir, wie die kleinen Boote mit der bloßen Hand durch ein Loch in die Blaue Grotte geschubst wurden, während die anderen mit geduckten Köpfen schon in unsichtbarer Bläue verschwunden waren. Denn Fotografieren war in der Blauen Grotte verboten. Mir wurden nur Bilder von hemmungslosen Italienern gezeigt, die mit geöffneter Hand eine kleine Spende für den Matrosen verlangten. Mein erster Matrose -
Und bald, es war gerade ein paar Monate her, sah ich alles selbst.
Unerreichbar nah war bis dahin alles, was mir den Winter über vom Volksbildungswerk im Nebenzimmer der Gastwirtschaft gezeigt wurde. Alles, was mich traf und von außen und weit weg in mich hineinstieß, war unerreichbar nah, aber die Anden tauchten an diesem Horizont nicht auf, niemals kam ein Lichtbildreisender mit den Anden zu mir, kein Lichtbildreisender - nur Briefe und Fotos in Schwarzweiß von meinem Onkel.
Aufgestachelt und erregt war ich schon durch die Bilder vom Eingang der Blauen Grotte, vom Grottenloch, vom Zauber des nicht fotografierbaren Nordlichts, von Spitzbergen und den Wäscheseiten aus dem Neckermannkatalog.
Jetzt dies. Kurz vor dem Ende: dies.
Der Mann hatte einen Schwanz wie ein Pferd, ein richtiger Pferdeschwanz war es, kein Vergleich mit den einheimischen Pferden, ihren Gauchos und ihren Gewehren, die zu den Lichtbildern angeritten kamen und sich in der Masse der angerittenen oder angeschlurften Unglücksraben, ihren Lenden, ihren hängenden, ihren wachsenden, ihren milchtreibenden Brüsten verloren.
Die Bilder liefen nacheinander ab. Der Meister schlug energisch mit seinem Stock, und die Schwanzbilder wechselten mit Menschenfresserbildern, gelegentlich trat das eine, dann das andere in den Vordergrund, gelegentlich beides zugleich.
Immer Frauen in Rand und Schatten, verheerende Bilder, wenn auch verwackelt und somit entschärft.
Eine Gänsehaut überzog Pico Grande. Die Zuschauer des schrecklichen Geschehens waren erleichtert, als ihnen unser Maestro versicherte, das Ganze habe sich so gut wie am (anderen) Ende der Welt abgespielt.
Wahrscheinlich waren die Fotos ohnehin gestellt, vom Maestro in Buenos Aires aufgetrieben. Aber ich wollte meinen Verwandten, meinen Lieben, meinen Indianern, den Glauben an den Schrecken nicht nehmen, ihnen die grässlichen Bilder, von denen sie noch lange zehren würden, nicht verderben. Ich musste ihnen ihre Aufschreie lassen, ihr Entsetzen, ihr Bier, ich konnte und wollte sie nicht um dies alles bringen ... Ich wollte ihnen kein Unmensch sein, enthielt ihnen also vor, dass es vor hundert Jahren bei ihnen genauso gewesen war, dass dann aber Eindringlinge kamen, die sie um alles betrogen hatten: den Kindern den Spielknochen wegnahmen, den Erwachsenen die gegrillte Hand, den Liebespaaren das Blutbad, und alles.
Man hatte ihr Land und ihr Leben verzäunt, ihr Fleisch und Blut, sie darin eingesperrt, sie, eine Mischung aus Eindringlingen und Nomaden, aus Mördern und Menschenfressern.
Sag ihnen, sie sollen jetzt nach Hause gehen. Dachte ich.
Doch es ging noch weiter. Die Bilder gingen aus, aber der Meister ließ seine Assistentin hinter einen Vorhang gehen. Der Vorhang fiel, auf dem Tisch lagen Kassettenrecorder und andere elektrische Geräte. Es gab noch keinen Strom für alle, aber die Dinge erregten großes Interesse. Der Meister sagte, sie könnten im Voraus kaufen, was man hat, hat man, sagte er auf Spanisch und tat schon beleidigt, als sich keine Hand rührte. Die Dinge waren wohl gebraucht, aber sie glänzten doch. Und dann wurden noch aufheizbare Bettdecken gezeigt. Er konnte die Sachen leider nicht vorführen, aber mit Händen und Füßen erklären. Er machte ihnen vor, was für ein Segen eine aufheizbare Bettdecke war und sein würde.
Und der Rasenmäher? Wo war das Gras?
Es war alles ganz wie zu Hause. Das war mein Hauptsatz geworden, der sich in meinem Menschentiergehirn nach vorne schob auf die Neuronenplatte meiner Muttermalexistenz, die von keinem anderen Trost wusste als diesem, dass es keinen Trost gab, und jenem vielleicht, dass meine Hoffnung nicht umsonst wäre, dass es einmal aus wäre mit allem.
Warum war er hierhergefahren?
Ich wollte auf der Stelle weg von hier. Wollte heim. Diesmal, wenn möglich, ins Nirwana oder in ein anderes Niemandsland, anderes Ende der Welt. Auch mir war es mit Pico Grande zu viel geworden, auch wegen dieser Leute, die auch nicht schlimmer waren als ich.
Als alles vorbei war, wurde ich durch Rosa noch dem Maestro vorgestellt. Ich wurde ihm gezeigt. Ich sollte mich mit ihm über Europa und Afrika unterhalten, über unsere Gemeinsamkeiten und alles, was wir gesehen hatten. Er war zweifellos ein gebildeter Mensch, seine Assistentin auch, weit gereist, etwas Besonderes, ich gab Rosa recht. Er und ich, wir waren die Einzigen, die etwas gesehen hatten von der Welt, die Mammutzähne, Schrumpfköpfe, Buschneger, Tigermäuler, Menschenfresser, alles. Doch bald merkte ich, dass es andere Buschneger, Mammutzähne, Schrumpfköpfe, Tigermäuler und Menschenfresser waren als meine.
»Übermorgen geht er zurück nach Europa!«, warf Rosa ein.
»Übermorgen geht es zurück nach Europa«, wiederholte er.
Sagte mir, dass er jetzt müde sei und ins Hotel müsse. Nichts hatte er verkauft. Ich hätte Mitleid gehabt mit so einem, hätte ihn auf einen Mendoza eingeladen. Aber er zog sich zurück, formvollendet wie nur ein Herr von Welt am Ende eines langen Lebens.
Ich sagte Adiós
und was man sonst noch so sagt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Meine Verwandten standen noch einmal wie Spalierobst, ich war auch ihnen nicht näher gekommen, hätte schon auf ihnen liegen müssen. Und ich winkte und weinte nicht, als ich mit Rosa hinausfuhr, erst von der Estancia, dann aus dem Tal von Pico Grande und dann auch schon wieder die Schafe links und rechts. Rosa brachte mich zum Nachtbus nach Esquel, und auf dieser vierstündigen Fahrt stellte sich heraus, dass wir uns nie verstanden hatten, und es fehlte nicht viel, und ich hätte diesen Filmsatz auch noch von mir gegeben, als wäre er gar nicht von mir. Wir, wir wussten gar nicht mehr, was wir noch miteinander reden sollten, hätten reden sollen. Es, es war wie bei einem Ehepaar, nachdem der erste Rausch vorbei ist, und nun hätten die Mühen der Ebenen vor uns gelegen, da waren wir zum Glück in Esquel. Dort aßen wir noch ein Eis und versicherten uns, dass es schön gewesen und dass wir kaum glauben konnten, wie schnell die Zeit vergangen war, tatsächlich, in der Nacht vor meiner Abreise hatte es zum ersten Mal geschneit.
»Erfüllt von dir nur und von nichts begnügt«
Ich stand schon an einem der Busbahnhöfe irgendwo in der Provinz und hatte Rosa und Pico Grande schon Adiós gesagt, saß irgendwie »erfüllt von dir nur und von nichts begnügt« wieder einmal zum Umsteigen, auf dem Weg nach Buenos Aires, nach Hause.
Da sah ich noch eine Dicke, wie sie an der Peripherie meines Weges saß. Sie hatte wohl nicht immer etwas Richtiges zu essen. Hier hungerte man nicht wie anderswo. Ein Stück Fleisch gab es immer. Auch Freunde, aber alles immer sehr einseitig. Die Armut, ihre Armut. Ich sah, sie hatte abgenagte Fingernägel. Nicht unbedingt ein Zeichen von Hunger, aber ein aufgewühlter Mensch.
Da entdeckte ich zwischen diesen Bussen, Kisten, Plastikkoffern und Reisenden meinen Maestro und seine Assistentin. Sie wollten mich nicht gleich erkennen, unter so vielen Menschen, aber dann gab ich ihr das Stichwort Pico Grande. Und schon begrüßten sie mich wie einen alten Bekannten oder einen Freund, es war wie ein Wiedersehen zu Hause nach einer langen Zeit in der Welt. Der Maestro nickte müde, so wie einer, der alles weiß, mit dem man nicht mehr sprechen muss. Er ist heiser und muss sich schonen, sagte die Assistentin. Ein rosaroter Schal grenzte ihn von den anderen ab.
Es folgte eine dieser Weiterreisen bei Nacht. Schenkel an Schenkel, nur etwas Viskose und Ersatzseide dazwischen. Noch bevor es ganz dunkel war, hatte sie schon begonnen, mir ihr Leben zu erzählen, das sich von nun an für immer mit ihrem Parfüm und ihrem Körpergeruch vermischte.
Kurz vor dem Ziel schreckte sie auf. Wo sind wir? An der Peripherie von Buenos Aires, so gut wie am Ziel.
Und auch ihr Mann fiel bald danach aus. Sie konnte nun mit keinem mehr von der Liebe sprechen. Mein Herz blieb stehen, sagte sie, etwas übertreibend. Es war ihr so, als ob sie von einem obersten Stockwerk hinuntergefallen wäre. Man muss ja nicht immer gleich tot sein. Tot war kein Wort mehr, es war nicht mehr wert als erinnern, nachtblau, Winterkleid.
Ihr Gesicht war zerknittert vom Schlaf, den grobgewobenen Poncho, den ich als Geschenk aus Pico Grande mitschleppte, hatte ich gegen die kühle Nacht um meine Schultern gelegt. Er zeichnete sich um ihre Halsgegend ab. Noch gar nicht wach, sprach sie von den Schafen und dem traurigen Reichtum des Südens, dass auf hundert Schafe nicht einmal ein halber Mensch komme und so weiter.
Kennen Sie Pico Grande? Es war für sie der traurigste Ort auf der Welt. Waren wir uns einig?
Nie zu jung
Besuch dieser Stripbar mit Backrooms in Buenos Aires auf der Heimreise, die jener von Friesenheim ähnelte. Besuch eines Bordells, zum ersten Mal, zum Abschied. Premiere und Last Tour fielen zusammen.
Erst dieses Plüschgewitter, rubinrot, und dann die Person auf der Bühne, ganz ungeschickt. Dazu diese verrohten Menschen ringsum im Zeitalter von Free Climbing. Ihr Versuch von Free Climbing, pickelig, unschön. Aber die Angereisten steigerten sich in diese Oberfläche hinein. Zu allem auch hier die Verheißung eines tiefroten Lippenstifts, rot lackierte Fuß- und Fingernägel. Als sie gar nichts mehr anhatte, nur noch diese Farbe.
Doch zuvor glänzende Gewänder mit viel Platz für alles. Dolores, heimatlose Erektionen, Tagträume und Schwänze aus der Pampa, Uruguay, Mesopotamien, Fleckviehgau, Schwänze und Schwanzgeschichten.
Ich sagte, »bin noch zu jung«. Und sie lachte.
»Nie zu jung!« Und sie, die auch einen Namen hatte, im Leben einen anderen als hier, lachte dreckig und vielversprechend und verheißungsvoll wie in einem Film.
»Zu jung!« Das wollte sie nicht gelten lassen und nahm mich mit.
Zum ersten Mal sagte ich »Zieh dich aus!« und werde mich nun ein Leben lang an diesen schönen Satz erinnern.
Gerüche und Geräusche von Dingen, die hinter mir lagen
Auf dem Flughafen. Vor mir noch einmal eine Art Panorama. Ein Geruch wie über dem Hafen von Heraklion, dem Hafen, über den ja schon der Verkehr des Labyrinths von Knossos lief. Gerüche und Geräusche von Dingen, die hinter mir liegen.
Die Enttäuschung Rosas, kurz nachdem sie mich erblickt hatte: und erst, als sie mich durchschaut zu haben glaubte.
So stöhnten sie, als wäre ihre Lust nur verdoppelt, nicht gelöscht. Aber es war doch immer nur ein Ausflug, von dem sie ernüchtert erwachten, und dann die Erinnerung an einen Riesenkater.
Und noch weiter zurück zu jener Frau, die mir erzählte, was für miserable Liebhaber sie in der Pampa vorgefunden hatte. Sie begnügte sich ja mit: fast nichts, meine Engländerin auf Reisen, die etwas Spanisch sprach und keine großen Ansprüche stellte. Das letzte Hemd der Liebe war schon abgelegt, eine Zustandsbeschreibung nur noch, ein impressionistisches Unglück, jenseits meiner eigenen Sinnlosigkeit, aber so, dass ich den Unsinn als solchen noch begreifen konnte.
Oder das Leben von Tante Lotte in ihrer Hütte, ins Feuer starrend, Wiener Blut nie gehört, kein Radio, nie in der Stadt, nur in der Hütte, kein glanzvoll vertuschtes Elend, Mendoza, Feuer, Feuerland, ein weißer Fleck, keine Geschichte, nur Rotwein, nur ihre indianische Mutter und was vorher war, kamen Gauchos, Russen, Deutsche, Juden, alles Strandgut?
Die Stelle, wo das Herz war, markierte sie mit einem Kreis. Auf ihre Briefe malte sie ein Herz. Ein Herz, das wie ein Hinterteil aussah, wie ein blühender Arsch.
Sie war in diesem Boden nicht verankert. Sie lebte grundlos an der Oberfläche. Ein Wind genügte. Sie war weniger als ein Strohhalm.
Jede Personenbeschreibung wäre ein Reisebericht.
So geht es jedem. Ich zähle zusammen, ich überschlage: mein Muttermal, mein Stück Fell, meine schwarze Herkunft, meine weiße, braune Stelle auf der Haut, meine Vorgeschichte, das Tier in mir, das nicht leben kann mit seinen Händchen im Wasser, nie richtig schwimmen gelernt hat im Leben, nicht richtig schwimmen kann im Leben, mit den Händchen im Wasser, die das Muttermal zudecken wollen, wie die Frau mit ihrer Hand vor dem Gesicht, die mit der Hand vor dem Gesicht lacht. Das Muttermal kommt von der Mutter. Du kommst vom Storch. Ich legte also noch ein Stück Zucker auf den Fenstersims, und dann brachte der Storch tatsächlich eine letzte Schwester zu meinen fünf anderen. So fängt ein Kind an zu glauben.
Mein Muttermal! Hinaus in die Welt mit dir! Hinaus zu den anderen!
Nun ade, du mein lieb Heimatland!, sang der Chor und blieb zurück. Der Auswanderer blieb fort, fort, und ich, an dieser Stelle über dem Meer angekommen, sah, dass ich nichts als Vorfahren habe, dass ich bis zu diesem Augenblick alle überlebt habe, bis zum Augenblick, der die Erinnerungen löschen wird.
Saß ich nicht auf meinem Aussichtspunkt wie über dem Meer und schöpfte aus ihm Hoffnung? Lächerlich, ich weiß, aber so war es.
Fritz ist fort
Jetzt kommen Leute ins Haus und nehmen die Sachen, so viel sie tragen können. Die elektrischen Geräte. Die Sofas, auf denen einst schöne Jungen schliefen. Ein Magazin, ein Pornoheft für Anfänger, fast nur Bilder, kommt in die Hände einer Frau, die nicht lesen kann und Söhne hat so alt wie in den Heften. Die Musikinstrumente, alles, was eine Band brauchte, die Gitarren, Schlagzeuge, ein paar Mal kamen sie und taten so, als ob sie üben wollten.
Die Ostseelandschaft nahm Mario mit. Als ich nach dem Bild fragte, hieß es, das sei nur ein billiger Druck gewesen, nur eine Kopie, die Kopie einer Landschaft, die Braque gemalt hatte. Ich werde nie wissen, was mit dem Bild war. Zweifellos, die Kälte Patagoniens hatte ihn an die Ostsee erinnert. Mehr hat er zu diesem Bild, auf dem ein Fischerboot dargestellt war, wie es hochkant und frontal in einem leeren Hafen lag, über dem - anscheinend zufällig - leere Netze übereinanderhingen, nicht gesagt. Nur, dass dies für ihn eine vertraute Szene war, gleichsam mit Leben gefüllt.
Das Wort Müdigkeit stand aufrecht wie eine Skulptur
Aber das Meer fiel mir doch nur auf den Kopf, und das Wort »Müdigkeit« stand aufrecht wie eine Skulptur vor mir, und das Wort »fatigue« lag breit daneben, weich und faul wie eine Geliebte lag es neben mir. Amateur war ich, Liebhaber oder Matador, wohlklingend wie Sarkophag. Meine Reden vom In-See-Stechen, Maden und Seeräubern straften mich, es strafte mich mein Fernweh und die Erinnerung, die rührenden Geschichten von einst, dass der Königsalbatros fünf Jahre übers Meer zu seiner Geliebten flog und so weiter.
Ich müsste mich an alles erinnern, was selig machte und keinen Bestand hatte.
Eines Tages stand ich in der Pampa. Die Geschichte begann. Immer noch wie ein Todkranker, der mit dem Gedanken an Schönheitsoperationen und Weltreisen spielt?
Das Fernweh und die Zugvögel, der Atem und das Blut, der Staub und das Leben, und eine Erinnerung bleibt noch, die ihr ganzes Gewicht in die Waagschale wirft:
Ich stoße auf eine Wildsau, wie sie im Wald verschwindet. Man kann sie gerade noch sehen, ihren Arsch, der ja zum Leben sagt, immer wieder ja sagt, wie er in den Wald hineinrennt und im Wald verschwindet, überstürzt, und in den Wald hineinscheißt, aus dem Wald herausfrisst, sich begattet, müde wird, immer wieder müde wird und ja sagt, ja zum Leben, ja, ja, ja, zügellos wie mein Leben selbst, das ohne Ziel ist, außer dem Ziel, kein Ziel zu haben.
Ich, ein junger Mensch, da war ich eingesperrt, ich, ein Erwachsener, da spiele ich mit dem Revolver, ich ein Alter, werde die ganze Zeit im Bett liegen mit einer Krankheit, die nicht heilbar ist, die ich mein ganzes Leben schon mit mir herumgetragen habe, mit meiner konsumierenden Krankheit, die zum Tode führt: mit meiner lebenslänglichen Maul- und Klauenseuche und meinem Muttermal.
So wurde ich in die Theologie hineingetrieben, bei dieser Vorgeschichte!, dachte ich mir dazu. Als hätte ich vergessen, dass ich einmal Priester werden wollte und dann Papst.
Da würde es enden, noch so eine Geschichte, und dann - der Muttermalträger, so dachte ich gelegentlich schon in der dritten Person, wenn ich an mich dachte, wer weiß, wie lange er noch zu leben hat, und dann würde er plötzlich da stehen, vor Gottes Thron. So sehr hatte ich davor Angst, »ich« zu denken, dass ich auf das »er« auswich, als wäre das ein anderer.
Warum war er hierhergefahren?
Das war die Geschichte von meiner Reise bis zu jener südlichsten Stelle auf der Welt, die trockenen Fußes erreichbar ist. Und nicht weiter, wo es weitergegangen wäre.
Das war die Geschichte von meinem Onkel, die keine Geschichte war. Und so enden alle Geschichten.
So endeten alle Geschichten, und die Geschichte von Fritz endete so: Da kam ein Brief aus Deutschland. Er solle nach Hause kommen, wenigstens zum Sterben. Nicht sofort, irgendwann, bald, sagt der Brief. Bald darauf verlädt Fritz das Wichtigste, aber nicht alles kann mit. So lässt er das meiste an Ort und Stelle. So lässt er das Haus zurück, mit allem, was drinnen war. Mario drängt zum Einsteigen. Im Hof läuft der Chevrolet warm. Hat er nicht genug Zeit gehabt? Er muss noch einmal zurück. Hat er vergessen abzuschließen? So eine Abreise! Jetzt war er so lange hier, aber zu einem richtigen Abschied bleibt keine Zeit mehr. Dann fahren sie los.
Was machst du so früh auf den Beinen, alter Freund?
Es ist Nacht, als sie die weite Landstraße hinausfahren. Der Rest ist schnell erzählt. Die Fahrt zum Flugplatz. Die Maschine nach Buenos Aires. Derselbe Weg wie damals. Weiter nichts. Ist er so still, weil er so bewegt ist?
Wir fahren seit etwa zwei Stunden. Die Sonne ist längst aufgegangen, ein Tag wie immer. Auf dieser Straße, der einzigen, die Patagonien mit der Welt verbindet, ist nichts los. Transamericana, keine Umwege, immer geradeaus, das macht müde.
Die Pappeln aufrecht wie immer. Vom kleinsten Rinnsal weg Pappeln in den Himmel. Wir nähern uns einem Camion. Was er geladen hat? Schweine. Es sind Schweine, Kostbarkeiten, sehe ich. Der einzige Schweinetransport, der in dieser Gegend, deren Boden den Schafen und deren Himmel den Wolken gehört, sagte er immer, unterwegs ist.
Ein Vermögen fährt vor uns her. »Schau hin!«, sage ich noch. Doch Fritz reagiert kaum. Er ist wohl am Einschlafen. Wir fahren nun direkt hinter dem Lastwagen her und können die Tiere schon riechen. In diesem Augenblick löst sich das Gatter. Ein einziges dieser schlachtreifen Exemplare verliert das Gleichgewicht und fällt von der obersten Etage durch unsere Windschutzscheibe, direkt auf die Stelle, wo Fritz eingeschlafen ist, und trifft den alt gewordenen Mann im nächsten Augenblick. Armer Auswanderer!
Und so hatte es dann auch im Brief gestanden, den mir die Doctora schrieb, auf Russisch, jener Sprache, die sie liebte, und nicht auf Deutsch, jener Sprache, vor der sie Respekt hatte. Ich fände schon jemanden, der mir das alles übersetzte. Der letzte Satz hieß: »Swinje moja eschatlogice salvirne y mazakrirnje y dwa mojim, Fritz me kaputki.« Das hieß auf Deutsch:
»Das Schwein kann noch gerettet und notgeschlachtet werden. Er aber ist tot.«
Interrail
Wie schreibt man: Liebe? Was ist »lieben«? Ist es ein Tu-Wort?
Es musste eine natürliche Begabung sein, ein Trieb der Natur, denn niemand hatte uns gesagt oder gar gezeigt, wie man sich liebt. Wir wussten alles schon, so wie eine gerade aus dem Ei geschlüpfte Seeschildkröte, die ins Meer davonschwimmt und erst wieder zurückkommt zum Eierlegen. Und so wie ein Neugeborenes, das von selbst anfängt zu schreien, als ob es das immer schon gekonnt hätte.
Wir nahmen uns in den Arm, in den Mund. Im Anfang war unsere herrliche Oberfläche, unsere Haare und Härchen. Und wir, in dieser Landschaft, waren wir Menschen? Und ich, war ich ein Mensch? Meine Erscheinung, meine Haare, mein Schweiß, mein Bauch an ihrem Bauch, mein Atem, mein Wehleid, meine Lust, mein Bauch an ihrem Bauch, ihr mein Körper auf Zeit, meine gnädige Frau - nahm Besitz von Ihnen, auf Zeit, leasing. Doch sooft wir uns schon wiederholt hatten und im Leben vorangeschritten waren, die alte Besinnungslosigkeit stellte sich ein. Auf einmal war sie: da: da: da. Und nun? Aug um Aug, Mund um Mund, Geschlecht um Geschlecht. Wir nahmen uns gegenseitig in die Augen, in den Mund nahmen wir uns, als ob wir Hunger hätten. Wir bissen uns aber nicht ab. Wir spielten nur, wie kleine Katzen spielen, mit sich und ihrer Maus spielen. Wir nahmen uns nur zwischen die Zähne und verschluckten uns nicht. Wir hatten ein Ziel. Unser Ziel war anzukommen. Tief. In der Tiefe.
Doch wie oft waren wir auf dem Weg dahin schon gestrauchelt. Da nahmen wir unser Handtuch von gestern und wischten uns unsere Liebe vom Bauch. Es war auf der Höhe des Bauchnabels, der die Verbindung zur Welt einst hergestellt hatte, und wir schliefen schon wieder ein.